Mir gegenüber ein älterer Herr, für den man extra man die hübsche Vokabel soigniert wiederbeleben müsste. Lange nicht mehr gehört, das Wort.
Nadelstreifen, aber keine geckenhafte 30er-Jahre-Verschnitt-Variante, nur einfach ein guter Anzug. Blankgeputzte Schuhe, Krawatte mit Nadel, daran etwas, das ein Clubabzeichen sein könnte, ganz klein. Man müsste schon sehr nah herangehen, um es genau zu erkennen. Weißes Hemd, dezente Manschettenknöpfe, mattes Silber. Keine Outdoorjacke, wie sie sonst alle tragen, sondern ein Kleidungsstück irgendwo zwischen Mantel und Jacke. So etwas wie Loden vielleicht, aber nicht in grün, sondern in grau und ohne jeden volkstümlichen Schnickschnack. Herrenausstattermode. Der Stoff sieht weich und teuer aus. Walkstoff, auch so ein Wort, das mir kaum je begegnet. Randlose Brille, graue Haare, im gleichen Ton wie die Jacke.
Er sieht ein wenig zu alt aus, um noch in ein Büro zu fahren, zumindest tut er das nicht mehr als Angestellter. Als Inhaber ist es vielleicht etwas anderes, als Berater, als Seniorchef, als wissenschaftlicher Beirat, als Aufsichtsrat. Fährt ein Aufsichtsrat mit der S-Bahn? Er hat es nicht eilig, er sitzt da sehr entspannt. Keine Zeitung, kein Buch, kein Handy, er sieht einfach aus dem Fenster. Nicht interessiert, sondern so, wie man eben aus dem Fester sieht, wenn da draußen irgend etwas vorbeizieht, das einem völlig egal ist. Hammerbrook ist das in diesem Fall, ein Stadtteil, der den meisten Hamburgern völlig egal ist. Der Herr sitzt und guckt, seine Mimik ist leicht, ganz leicht bewegt. Ab und zu gehen die Augenbrauen ein klein wenig nach oben, ab und zu ahnt man ein Nicken,ein Kopfschütteln, eine kaum wahrzunehmende, wiegende Bewegung. Dann ein etwas rhythmischeres Nicken, auch das sehr zurückhaltend. Seine Finger tippen manchmal sachte auf die Knie. Er hört Musik .
Er hört Musik aus Kopfhörern, wie sie jetzt aktuell sind, groß und voluminös. Es ist gar nicht lange her, da hätte man so etwas von der Form her noch für Lärmschutz gehalten und nur in Fabrikhallen aufgesetzt. Heute tragen das aber alle auf dem Weg in die Fabrikhallen, die natürlich nur noch Büros sind. Die Kopfhörer des soignierten Herrn sind, das kann man auch bei freundlicher Betrachtung kaum anders ausdrücken, in einer Farbe gehalten, die man als Brüllpink-Metallic wohl annähernd korrekt bezeichnet. Er trägt mit der größten anzunehmenden Würde ein Accessoire, das an ihm genau so falsch und grotesk aussieht, wie ein Hello-Kitty-Rucksack oder ein Lillifee-Krönchen. Es glitzert schrill an seinem Kopf.
Und er hört damit, man kann das natürlich nur ahnen und raten, klassische Musik. Dieses ganz leichte Wiegen des Kopfes, die Augenbrauen, die ab und zu sachte in die Höhe gezogen werden und dort oben leicht schaukelnd einen kleinen Moment verweilen… die folgen doch Violinen, möchte man annehmen.
Ich stehe auf und steige aus, der Mann sieht mich an, lächelt und nickt. Ein verbindliches Nicken, als hätte ich eben bei ihm einen Bausparvertrag unterschrieben oder einer Firmenfusion zugestimmt. Er ist es gewohnt, höflich zu sein. Ein kultivierter Typ, gar keine Frage.
Dann sieht er wieder aus dem Fenster, wo Zimmerleute auf einem Fleet an Hausbooten bauen. Sie tragen gerade Latten vom Ufer auf die Schiffe. Aber der Herr sieht nicht so aus, als würde er das wahrnehmen. Er hört einfach nur konzentriert Musik. Aus pinkfarbenen Kopfhörern. Mit Glitzer.
Sehr schöne Geschichte, vielen Dank dafür!
Tränen in den Lachfalten. Was für ein grandioser Abschluss für (m)einen Arbeitstag. Jetzt selbst raus und ins Großstadtgetümmel. So lange diese wunderbare Frühlingswettersonne scheint. Und die Vögel gleich ihren Dämmer-Rabatz veranstalten. Danke, lieber Maximilian. Für diese wunderbare Geschichte.
Wunderbar. Und jedem sein Pink mit Glitzer.
Nur eine höfliche Frage.
stellen Sie sich in meinem Fall das Gleiche in Frau vor.
Ist das lächerlich? Im Moment komm ich mir komisch vor.
Die Frau, Dame Helene, hätte Kopfhörer mit Star Wars und Lego Chima bzw. Lego Ninjago Lizenzware in den Ohren. Das wäre das Gegenstück. Eine Marktlücke!
Wunderbar.
[soigniert – zuvor nie gehört/gelesen.]
Schade, dass es da kein Foto gibt!
was ks sagt.
Kinners, der Text ist das Bild.
und ob es nicht die kopfhörer von der enkelin waren??
<3
Ja, der Text ist das Bild, und zwar ein ganz großartiges. Tolle Beobachtung und so vollkommen auf den Punkt gebracht. Wie es aussieht, lohnt es sich hochzugucken.
Ganz wunderbar diese Geschichte. Da geht sofort das Kopf(hörer)kino an 🙂
Und aus eigener beruflicher Erfahrung kann ich Ihnen mitteilen: ja, sogar manche Chief Executives fahren S-Bahn. Auch via Hammerbrook.
Irgendwie hatte ich so das Gefühl, Loriot sei zurückgekehrt…
Großartiger Text. Menschen sind eben doch sehr spannend.
Nun, da die tragbaren Musikplayer kaum größer als Radiergummis sind, muss man eben mit riesigen Kopfhörern zeigen, dass man cool ist. Um den Klang scheint es dabei am wenigsten zu gehen… nur manchmal sehe ich auf der Straße Menschen mit den guten Studio-Lauschern von AKG oder Beyerdynamic. Aber cool sein, das ist nichts für ältere Herren in gepflegten Anzügen.
Man könnte sich vorstellen, dass der Herr im Anzug den Kopfhörer von seiner Enkeltochter ausgeliehen hat. Es gibt viele mögliche schöne Geschichten hinter dieser Geschichte. 🙂
Sympathisches Portrait, während des Lesens hätte ich den Herrn gerne näher kennengelernt.
Sehr schönes Kopfkino. Danke!
Und – Hochgucken lohnt sich IMMER, gelle?Sagte ich doch schon … 😉 Warum? Weil wir alle nur dieses eine Leben haben.
Hey, auf euer schmartes Fon könnt ihr noch alle schnell genug gucken – müsst nur ins Testament setzen lassen, dass euch unbedingt so ein unverzichtbares – Must-have – Teil in Sarg/Urne/whatever gelegt wird … Morbide, ich weiß, also besser: Hochgucken!!!
LG in den Norden und überall hin von
Josie aus’m Pott 😉
Sehr schöne Geschichte!
Hachneinwieschön. Soigniert, ein Wort wie eine Praline. I love it! Sie können aber auch schreiben, nä nä nä. Bitte M E H R!! Lieben Gruß aus München