Wir waren in Nordostwestfalen, wo wir die Naturkenntnis der Söhne um immerhin zwei Gattungen erweitern konnten. Zum einen haben wir in einem Waldstück eine Blindschleiche gesehen, zum anderen lag das ganze Land voller toter oder sterbender Maikäfer. Warum sterben all die Maikäfer gerade? Eine vollkomen berechtigte Frage der Söhne, die Erwachsenen daneben versuchen vergeblich, sich an Schulwissen zu erinnern. War da nicht irgendetwas mit Zyklen und sieben Jahren oder mit Tod nach Paarung oder weiß der Kuckuck – der übrigens vom Waldrand ruft, da haben wir gleich noch eine neue Art und auch wunderbar abgelenkt. Kuckuck! Da, schon wieder, hört ihr?
Da gab es doch auch so eine Regel, so oft wie der Kuckuck schreit, so viele Jahre müssen die jungen Mädchen auf den Mann warten, der sie heiraten wird – oder wie war das noch? Wenn das die Regel ist und wenn es nach diesem Kuckuck geht, dann haben die jungen Mädchen im Dorf noch sehr, sehr viel Zeit, viel mehr Zeit, als sie schön finden werden. Ich kriege die Regel nicht mehr richtig zusammen, aber der Ruf des Kuckucks klingt auf jeden Fall sehr nett nach damals, nach irgendwelchen Kindheitswäldern, die ich längst nicht mehr Orten zuordnen kann. Irgendwo im Mai, irgendwo im Damals. Da gab es auch Maikäfer, dann gab es sie sehr lange Zeit überhaupt nicht mehr, so etwas fällt einem dann erst auf, wenn man sie wieder sieht. Aber ich erinnere mich immerhin noch an dieses leise, feine Knacken, wenn man barfuß auf einen Maikäfer getreten ist, dieses jähe Schuldgefühl und das Wissen, bestimmt nichts mehr retten zu können.
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Auf der Rückfahrt nach Hamburg haben wir den Söhnen lehrreiche Musik vorgespielt, Musik aus der Geschichte ihrer Eltern. Da wir zuhause nie Radio hören und keine Platten oder CDs abspielen, jeder hängt hier nur an seinem Stream vom Computer, muss man sich das ab und zu fest vornehmen, die Musik von damals für alle aufzulegen. Die Söhne lernen sie sonst nie kennen, das möchte man ja auch nicht. Wir hörten diesmal Bands, die in den Partyphasen unserer Jugend eine Rolle gespielt haben, auch wenn diese Phasen etliche Jahre auseinander lagen. Gegensätzliche Bands, die manchmal Familien und Haushalte trennen, wie man hört, eine Glaubensfrage wie bei St. Pauli oder HSV. Na, vielleicht nicht ganz so, damals hat man sie eh nacheinander gehört, ganz zwanglos. Die Ärzte und die Toten Hosen, die alten Sachen, die alten Hymnen, die alten Scherze, die alten Partysongs, zu denen wir einst in irgendwelchen anderen Armen gelegen haben, zu denen wir einst fortgeschritten alkoholisiert durch irgendwelche partyverwüsteten Wohnzimmer von Schulfreunden gehüpft sind.
Und Sohn I, gerade von Sylt zurück, kann sich tatsächlich mit “Zurück nach Westerland” anfreunden, das findet er gar nicht so schlecht. Sohn II findet “Eisgekühlter Bommerlunder” ausgesprochen belebend und alle Zweifel, dass man auch angeschnallt in einem Kindersitz außer Rand und Band tanzen kann, sie sind jetzt endgültig ausgeräumt. Das Lied geht nach wie vor ab, das Kind auch. Und man findet Campino für einen kleinen Augenblick doch wieder sympathisch, das macht die Nostalgie.
Mir gehen, das macht auch die Nostalgie, die bekanntlich immer schlimmer wird, wenn man erst einmal damit anfängt, auch die Maikäfer nicht mehr aus dem Kopf. Weil sie mich an die Sportfeste in der Oberstufe erinnern. Das habe ich schon einmal irgendwann erzählt, wer sich daran erinnert, kann hier ruhig wegklicken. Ich will aber zu einem anderen Ende hin, deswegen muss ich die ganze Kurve nehmen. An meiner Schule gab es die mit großer Begeisterung gepflegte Tradition der Unsportlichkeit, wir legten erheblichen Wert darauf, nichts zu können und nichts zu gewinnen. Das brachte unsere Sportlehrer selbstverständlich regelmäßig zur Verzweiflung, zumal wir nicht einmal als Publikum Lust hatten, unsere in der Tat drittklassigen Truppen anzufeuern. Wozu auch? Hatten sie denn eine Chance gegen die anderen Mannschaften aus den sportlicheren Gymnasien, mit den meterlangen Vitrinenreihen voller Pokale und Medaillen auf den Fluren? Aber nein, hatten sie nicht. Die Lehrer bestanden dennoch darauf, dass wir bei den jährlichen Leichtathletikmeisterschaften der Schulen unsere Läufer anzufeuern hatten, mit Spruch und Lied, zwo, drei. Und wir sangen, weil wir eben etwas singen mussten, “Maikäfer flieg”. In äußerst getragener und sehr langsamer Version, so tief die bröckeligen Jungsstimmen eben reichten. Und da wir auch Sprüche zu brüllen hatten, riefen wir den vermutlich unbrauchbarsten Anfeuerungschor, der je an einer Schule erdacht wurde: “Ich bin stolz, ein Katharinäer zu sein, denn katharos heißt rein.” Lehrer hätte man da nicht sein mögen, fällt einem beim Erinnern etwas unangenehm ein.
Es gab nur wenige Streber bei uns, die dennoch vehement auf Sieg aus waren, die sich auf der Bahn die Seele aus dem Leib liefen, die dennoch unbedingt vorne sein wollten, beim Sport, auch im Unterricht, bei allem. Wir wollten nicht gewinnen, wir wollten Party machen, Musik hören und trinken und uns verlieben. Und erst heute, aus der Position meines längst recht konventionellen Alltags heraus, fällt mir auf, dass wir nicht gewinnen wollten, weil wir dachten, längst gewonnen zu haben. Wir waren keine Spießer, das war es nämlich, worum es eigentlich ging. Das war der Hauptgewinn, das meinten wir, verstanden zu haben. Mit sechzehn schon! Das war ziemlich früh für solche lebenswichtige Erkentnisse. Aber wir waren eben verdammt schlau. Dachten wir.
In unserer Abi-Zeitung gab es von jedem Schüler ein Bild und einen Text aus nur vier Wörtern. Einer der Oberstreber von damals saß da mit Schlips und Kragen und dem Text “Deutschland, Deutschland über alles.” Ich auf dem Bild daneben, noch langhaarig und mit Schreibmaschine auf dem Schoß und dem Text “Völker, hört die Signale.” Er hat dann Jura studiert, ich irgendwas, das passte schon.
Vielleicht haben wir heute einen auf den ersten Blick ganz ähnlichen Alltag, das kann schon sein. Aber er ist Funktionsträger in einer bürgerlichen Partei geworden, ich bin ein seltsamer Teilzeitblogger mit Sponsor aus der ökoszialen Ecke, vielleicht passt das alles doch immer noch ganz ganz gut? Vielleicht denke ich aber auch nur aus alter Gewohnheit, dass ich sowieso immer schon gewonnen habe, ohne je aufgestanden zu sein. Ick bün all door. In all meiner mittlerweile doch recht braven Spießigkeit. Da mal drüber nachdenken!
Aber erst ein belegtes Brot mit Ei. So viel Party muss sein.
Jo.
Respekt fürs Reinhard-Mey-nicht-Nennen. Trotzdem jetzt Ohrwurm.
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Ein hohes Tier in der CDU mit „Deutschland, Deutschland über alles“ als Abizeitungsspruch? Weiß die Presse Bescheid?
Ach, so hoch nun auch wieder nicht.
Ich kenne es so, dass man mit Geld in der Hosentasche klimpern soll, wenn der Kuckuck ruft, dann wird einem in dem Jahr das Geld nicht ausgehen…
Und wie war das noch mal mit den Maikäfern? Ich glaube bei uns gab es nie welche
<3
Hammer! Danke für den tollen Text von Anfang bis Schluss!
EI!
In meinem „damals“ hatte sich ein kleiner unbedarfter Maikäfer auf dem Schulhof verirrt. Er konnte ja nicht wissen, dass dort das Revier der garstigen Nachbarskatze war, und als die Pausenglocke läutete, wurden wir Grundschulkinder Zeuge davon, wie das kratzbürstige Tier den kleinen Käfer von der Wand holte. Ein paar der Jungs johlten angesichts des Sadismus, mit dem die Katze den Krabbler immer wieder anschubste um ihn dann doch nicht entkommen zu lassen. Katzen und Kinder – das können die grausamsten Wesen sein.
Als der Tiger von ihm abließ, fehlten ihm zwei Beinchen und sein Flügel war gebrochen. Mich quälte das schlechte Gewissen, und ich nahm ihn mit nach Hause, gab ihm einen genderneutralen Namen und baute ihm eine kleine Pappkiste, in der ich ihn überall mithinschleppte. Meine Eltern hatten damals wohl nicht damit gerechnet, wie widerstandsfähig ein Käfer sein kann, und so blieb ihnen ein paar Wochen später nichts anderes übrig, als augenrollend zu akzeptieren, dass Dani uns in unseren Radurlaub nach Holland begleiten würde. Während wir durch die Pampa strampelten, wartete Dani in seiner kleinen Schachtel auf dem Tischschen in der Kabine unserers Schiffshotels auf unsere Rückkehr, und bekam jeden Abend als Belohnung neue Leckereien von niederländischen Wegesrändern mitgebracht. Eines Morgens, das Schiff hatte gerade abgelegt, fand ich ihn dann tot in seiner Schachtel und bereitete wenige Stunden später unter Tränen seine Seebestattung vor. Das Damals-Ich grübelte noch lange darüber, woran er wohl gestorben war – ob an den exotischen Gewächsen oder den Folgeschäden seines Kampfs mit der Katze. Andere Todesursachen für das Sterben eines Maikäfers schienen mir ganz und gar unmöglich.
Das Maikäfermassensterben, dass Sie und Ihre Kinder nun so unweit von der niederländischen Grenze beobachtet haben, scheint das Rätsel von damals aufzulösen. Tod nach Paarung, Sterbezyklen oder andere natürliche Todesursachen? Papperlapapp! Die exotische Flora der Region bekommt Maikäfern einfach nicht.
Bei jedem Kuckucksruf sage ich bei mir: Kuckuck, Kuckuck sag mir doch, wieviel Jahre leb‘ ich noch?
Und ich finde es jedes Mal gruselig.
Danke für den schönen Text.
a) wie Anke vor mir. Und deshalb ist es so sehr begrüßenswert, wenn er ganz ganz oft ruft!
b) was sollen die armen Maikäfer sonst tun? immerhin schon der 25.
und kennt ihr diese kleinen Junikäfer?
“ Ick bün all door. In all meiner mittlerweile doch recht braven Spießigkeit. Da mal drüber nachdenken!“
Mach ich! 😉
Langhaarig? Tatsächlich?
„Ick bün all door.“
Ik ook. 🙂