Ich lese Meldungen in den Refugee-Support-Gruppen auf Facebook, da geht es oft auch um den Hamburger Hauptbahnhof. Bei der Deutschen Bahn haben jetzt mehrmals Menschen angerufen und sich beschwert: Wenn die Suppe der Hilfsinitiativen aus dem Stadtteil hier an die Geflüchteten ausgegeben wird, dann bilden die Hungrigen vor dem Versorgungsstand im Zelt auf dem Bahnhofsvorplatz eine Schlange. Und diese Schlange ist anderen Menschen im Weg, die müssen dann nämlich darum herum gehen. Und so geht es ja nun nicht.
Immer wieder fallen mir, wenn ich morgens durch den Bahnhof zu meiner S-Bahn gehe, in den Grüppchen der Geflüchteten, die da hinter den Helfern her zu einem Gleis gehen, Menschen auf, die weniger Gepäck dabei haben als die Hamburger Büroangestellten auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch. Und Menschen mit viel Gepäck, also etwa mit einer Menge, die wir nach Mallorca mitnehmen, sieht man fast gar nicht.
Ein kleines Mädchen aus, na, sagen wir Syrien, füttert Tauben vor dem Bahnhof, lacht und freut sich, weil die Vögel tatsächlich kommen und an ihren Krümeln picken, die sie aus einem Brötchen zupft. Gibt es Tauben in Syrien? Ich habe keine Ahnung. Neben dem Mädchen stehen zwei vermutlich deutsche Rentnerinnen, kopfschüttelnd: Taubenfüttern! Das auch noch!
Ein erstaunlich warmer Herbstabend, nachdem es hier schon früh im Jahr ziemlich kalt, nass und gemein war. Aber heute geht man noch einmal entspannter durch den Abend, freundliche elf Grad, überhaupt kein Wind, die Schultern lockern sich wieder, manche laufen ohne Jacke herum. Am Nachmittag war ein merkwürdiges Licht in der Stadt, fahle Sonne, die Herbstblätter leuchteten darin noch heller als sonst, überall Straßen mit Goldrand. Auf dem Bahnhofsvorplatz liegen jetzt am frühen Abend wieder Menschen einfach auf dem Boden und schlafen eine Stunde oder mehr, bis der nächste Zug nach Norden fährt. Manche schlafen da mit ihren Kindern im Arm. Anorak, Mütze, zwei Decken, das geht. Bei diesem Wetter muss man sich nicht für ein paar Stunden ein Dach suchen, ein Zelt, einen Platz in irgendeiner Einrichtung. Man muss niemanden um etwas bitten. Man kann einfach irgendwo ein wenig schlafen. Für den nächsten Tag ist schon wieder Regen angesagt.
Ich gehe um die Alster, es ist ein Sonntagvormittag. Dunkle Wolken ziehen über die Stadt. Aber es riecht noch nicht nach Regen, die Luft ist oktoberklar und zwischen den Wolken bricht alle paar Minuten die Sonne hervor, dass die alten Bäume am Alsterufer im Licht plötzlich aufflammen, jähes Gold, unfassbares Rot. Die Alster liegt dunkelblau, darüber Wolken, die sich immer höher türmen. Jetzt ist eine Wolkenlücke mitten über dem Wasser, dass die Sonnenstrahlen wie schräge Säulen zu den Ufern streben, ein kathedralenhafter Anblick wie aus einem völlig überzeichneten Stadtwerbeprospekt. Ein Windhauch geht durch die Bäume, aus deren sachte bebenden Zweigen sich Laub löst, als würde alles auf einmal losgelassen, immer noch mehr und noch mehr kommt da herunter, obwohl es doch nur ein Windchen war. Die Bätter kapriolen durch die Luft, sie lassen sich Zeit bis zur Landung. Der Herbst wirft mit Gold, es regnet maßlose Pracht auf die Spaziergänger, die stehenbleiben und mit offenem Mund nach oben sehen, weil es ein so überaus perfekter Herbstmoment ist. Sie sehen nach oben in die trudelnden Blätter und dann wieder nach vorne über die Alster. Paare rücken enger zusammen, Handyfotos, zeigende Finger, sprachloses Staunen, es ist schön, es ist so schön hier, guck doch mal, wie schön. Ja. Die Menschen gehen weiter, sie gehen langsam durch all die Schönheit, man hat Zeit und ist beglückt. Man trägt neue Herbstmode und sieht aus wie frisch renoviert, die Kulisse ringsum könnte in keiner Oper ansprechender oder üppiger sein und der Wein an den alten Villen im Alstervorland färbt sich auch diesem Jahr wieder äußerst geschmackvoll rot, auch darauf zeigt man. Wie er das immer hinbekommt, so genau richtig rot zu werden, man könnte heute jede Mauer, jedes Blatt und jeden Zaun für so ein Landlustmagazin fotografieren. Von irgendeinem Elend, von irgendeiner Krise sieht man hier nichts, gar nichts.
Ein junger Vater kniet in der Wandelhalle neben seinem etwa sechsjährigen Sohn. Sie knien vor einer Steckdose unter einer Treppe, sie laden da ein Handy auf. Vor ihnen liegen noch mehr Handys, ein ganzes Bündel verwirrter Ladekabel. Der Vater erklärt dem Jungen gerade ein Spiel auf dem Handy, der Sohn ist hochkonzentriert und ganz offensichtlich sehr begeistert. Er legt sich auf den Bauch, man sieht seine Aufregung an den wild zappelnden Füßen. Der Vater sieht ihm eine Weile zu, ob auch alles funktioniert, ob der Kleine alles verstanden hat, sagt noch einen Satz, zeigt noch einmal aufs Display, dann steht er auf und streckt sich. Genau wie ich den Söhnen etwas auf dem Handy zeige. Nur nicht mitten im Bahnhof, abends um halb zehn.
Für die Hilfsinitiativen hier im kleinen Bahnhofsviertel kann man weiterhin spenden. Für die Suppe, die den Geflüchteten am Bahnhof gereicht wird, für so elementar Wichtiges wie Trinkwasser, für die Nachtquartiere, für etwas Hilfe auf dem Weg. Spendenbescheinigung auf Wunsch möglich! Vielen Dank.
Danke.
Ich empfehle als eine der besten Dokumentationen sowohl zu Flucht (diese Woche) als auch zu Armut (letzte Woche) eine Sendung, die obwohl schon alt, immer noch von einer politisch sensiblen Aktualität ist:
http://www.wdrmaus.de/aktuelle-sendung/index.php5
Diesmal mit Tiba aus Syrien. …
Vielen Dank für die Beobachtungen und die Wertschätzung, die in den Texten spürbar wird!
vielen Dank für diese Serie. Sie ist mir sehr ans Herz gewachsen, und ich schicke links dazu regelmässig weiter, weil ich glaube dass genau diese kleinen Beobachtungen (und das lesen darüber) mehr ändern als Kritik, Hass und Aufregung.