Kleine Szenen (7)

Ich arbeite seit vielen Jahren für eine weltweit tätige französische Firma. Die Konzernzentrale ist in Paris, über siebenhundert Leute arbeiten dort. Nach den Attentaten vom 13.11. sehe ich in meinen Firmenmails, auf Facebook und und auf Twitter nach, jemand könnte ja schreiben, dass alle Kolleginnen okay sind. Ich lese aber einen Tag lang nur, dass man noch nichts weiß. Es ist Wochenende, wie sollte man es auch wissen. Auf Twitter posten die Kollegen schließlich nur einen Link zu einem Song: Imagine von John Lennon.

Im Supermarkt in unserem kleinen Bahnhofsviertel läuft ein auffällig vergnügter Familienvater herum. Er trägt ein sehr langes, kleidähnliches Hemd und eine goldbestickte Mütze, wenn man sich gut auskennen würde, man könnte womöglich am Gewand sein Herkunftsland erkennen. Aber ich kenne mich nicht aus. Seine Frau trägt Kleid und Kopftuch, sein etwa sechsjähriger Sohn trägt die Tracht seines Vater in klein. Der Vater lädt alles in den Wagen, was mit Weihnachten zu tun hat. Lebkuchen, Dominosteine, Spekulatius und Stollen. Aber auch eine Baumspitze, Lichterketten, Lichterbögen, Christbaumkugeln, er kauft das ganze Zeug, das hier im November sonst noch keiner anrührt. Er hält ab und zu ein Stück hoch und zeigt es strahlend seinem Sohn. Der guckt eher irritiert als begeistert, nickt aber doch bei jedem Stück zustimmend. Die Frau schüttelt etwas bemüht lächelnd den Kopf, mit einem Gesichtsausdruck, als sei sie seltsames Verhalten des Gatten lange gewohnt. Ich kenne diesen Blick von der Herzdame, der Blick ist auf der ganzen Welt gleich. Der Vater rollt den Wagen zur Kasse, er sieht aus, als hätte er das Schnäppchen seines Lebens gemacht. Die Geschichte hinter dieser Szene kann man nur raten.

In einer Kneipe sitzt eine junge, arabisch anmutende Frau mit zwei Männern, natürlich kann sie aber auch Spanierin, Griechin, Afghanin oder sonst etwas sein, man kann das alles nur raten, wie bei fast allen Szenen hier. Eine Touristin, eine Frau, die seit Jahren in Hamburg arbeitet, eine Expat aus den USA oder von Sizilien, was auch immer, jedenfalls ist sie keine Deutsche, sie kann auch kein Wort Deutsch. Die Kleidung verrät nichts, sie ist so durchschnittlich, wie sie nur sein kann, Jeans und grauer Pullover. Die Männer sind Deutsche, sie reden gelegentlich ein paar deutsche Sätze miteinander. Die drei reden miteinander Englisch, ich kann nicht verstehen, worum es geht. Bis sie alle drei einen Satz mehrmals laut wiederholen, noch einmal und noch einmal: “Leck mich am Arsch.” Die beiden Männer sagen das auf Deutsch vor, die Frau versucht es nachzusprechen, was ihr aber nur ansatzweise gelingt. Besonders das R bekommt sie überhaupt nicht hin, was alle sehr amüsiert. So eine schwere Sprache! Allmählich bekommt die ganze Kneipe mit, was sie da machen, und nach und nach kommen Vorschläge von den anderen Tischen. Denn man kann doch auch “LMAA” sagen, viel einfacher! Und sogar ganz ohne R, das muss sie doch können. Oder, sehr norddeutsch, einfach nur: “Ja, ja.” Und weil die Frau immer wieder eher Jasch als Arsch sagt, denken alle über das Wort nach und murmeln es vor sich hin, wir haben hier aber auch eine seltsame Aussprache, oder nicht? Wie reden wir eigentlich? Klingt es nicht eher wie Orsch? Oarsch? Aarsch? Aasch? Die ganze Kneipe spricht kurz über Sprache und Klang und fremde Vokabeln, murmelt mehrmals testweise das Wort, bevor sich jeder wieder wie vorher seinen Gesprächspartnern zuwendet. Ich höre nur noch die nächste Herausforderung für die junge Frau und ahne, dass sie kaum zu bewältigen sein wird: “Kreuzweise”.

Ich rede mit Sohn I über die Schwierigkeit, sich in diesem Jahr auf einen strengen Winter zu freuen. Auf so einen Bilderbuchwinter, in dem man endlich einmal wieder Schlitten fahren kann, in dem man womöglich sogar einen Schneemann bauen kann, in dem Schneeballschlachten in der großen Pause möglich sind, das ist sein größter Wunsch. Das gab es alles so lange nicht, das wäre doch schön. Auch für seinen kleinen Bruder, der sich an Schnee schon gar nicht mehr erinnern kann, das muss man sich mal vorstellen. Die Schwierigkeit besteht nun aber darin, dass dem Sohn das Thema Winter genau vor den Versorgungszelten am Hauptbahnhof eingefallen ist, vor denen frierende Menschen in unangemessen leichter Kleidung herumstehen. Werden die es im Winter alle warm haben? Was ist mit denen, die jetzt noch auf der Flucht sind, irgendwo im Gelände? Stehen die echt tagelang im Schnee? Es ist kompliziert.

Ich sitze am Computer, die Söhne kommen vorbei und sehen auf meinem Bildschirm das Bild eines Polizeiwagens, es gehört zu einer Lokalzeitungsmeldung über einen Mord hier um die Ecke. Sohn I sieht nur das Bild des blauweißen Autos und murmelt: “Ah, Paris.”

Ich helfe abends bei der Vorbereitung der Kirche vor unserer Haustür, die nachts einige der Geflüchteten aufnimmt, die am Hauptbahnhof nicht mehr weiterkommen. Es ist kalt draußen, die Kirche kann man heizen. Sie wird nicht mollig warm, aber warm genug. Es wird Tee in großen Kannen gekocht, Isomatten werden zwischen die Bänke gelegt, Kekse bereitgestellt. Mir werden die Lichtschalter erklärt: “Und hier kannste den lieben Gott dimmen”. Es ist ruhig in der großen Kirche, nur ein paar Menschen, die mit Kannen und Tüten hantieren, Decken sortieren, Becher bereitstellen. Aber, das merkt man erst nach einer Weile, es kommen und gehen doch erstaunlich viele Menschen. Weil sie für die Kirche arbeiten und kurz nachsehen wollen, wie es läuft. Weil sie da sauber machen. Weil sie zu der Freiwilligengruppe gehören, die Suppe für Obdachlose kocht. Weil sie zu der Freiwilligengruppe gehören, die Suppe für die Flüchtlinge kocht. Weil sie dafür Töpfe holen oder bringen oder abwaschen. Weil sie nachsehen wollen, ob genug Helferinnen da sind. Weil sie die Hilfe der nächsten Tage abstimmen wollen.Weil sie Chorprobe haben. Die Kirche hat mehrere Türen, alle paar Minuten tritt durch eine jemand auf. Manche kenne ich, manche nicht, manche begegnen mir sonst in ganz anderem Kontext, man lernt sich durch diese Hilfsinitiativen im Stadtteil auch neu kennen. Wäre ich Theaterautor, ich würde diese Szene vermutlich einladend finden, das große leere Kirchenschiff im Halbdunklen, das kleine improvisierte Versorgungslager unter der Orgelempore, ein paar Tische mit Wachstuchdecken. Die Auftritte der wechselnden Personen, die alle irgendwie mit Hilfe, aber nicht unbedingt mit der Kirche zu tun haben. Die kurze Dialoge führen und gleich wieder abgehen. Wenn die Türen aufgehen, sieht man kurz Dunkelheit und Regen. Jemand bringt hartgekochte Eier, jemand holt Gemüse, das für die Suppen morgen geschnippelt werden muss. Jeder sagt bei seinem Auftritt zuerst etwas davon, dass es kälter wird. “Es wird jetzt echt kälter, was?” Ja, das wird es wirklich. “Es wird kälter”, ein Theaterstück über Deutschland 2015, das passt alles. Die vorkommenden Typen kennt mittlerweile jeder, der irgendwie mit den Hilfsaktionen zu tun hat. Wenn ich aus unserem Wohnzimmerfenster abends auf die Kirche sehe, kommt sie mir wie ein ruhendes, dunkles Gebäude vor. Aber in diesem November ist es abends ziemlich lebendig in dem großen Bau.

Für die Hilfsinitiativen hier im kleinen Bahnhofsviertel kann man weiterhin spenden. Für die Suppe, die den Geflüchteten am Bahnhof gereicht wird, für so elementar Wichtiges wie Trinkwasser und heißen Tee, für die Nachtquartiere, für etwas Hilfe auf dem Weg. Spendenbescheinigung auf Wunsch möglich! Vielen Dank.

 

8 Kommentare

  1. Es wird kalt in Deutschland, in doppeltem Sinne, Richtig. Und trotzdem, es ändert sich etwas. „… es kommen und gehen doch erstaunlich viele Menschen …“ Ja, und es sind so viele dabei, die das vor ein, zwei Jahren noch nicht einmal ins Auge gefasst hätten. Es ändert sich etwas, in den Köpfen, in den Herzen, in den Vorstellungen von unserer Welt und wie sie sein sollte. Langsam, aber ganz sicher. Es wird dauern, es wird schwierig, aber es wird unaufhaltsam und unumkehrbar sein …

  2. Es schneit gerade!! Heute könnte man auf den Weihnachtsmarkt der finnischen Kirche gehen und in der Kälte draußen Glögi trinken und Pittipanna essen oder im Supermarkt im Keller Hartknäckebrot und Stinkefisch kaufen. Da kommt tatsächlich sowas wie Winterstimmung auf. Das hat unserem kleinen Jungen immer gut gefallen.

  3. Ich kann sogar berichten, dass man auch ohne Wunsch einen ganz netten Dankesbrief und eine Spendenbescheinigung bekommt und dass es dank Paypal maximal unkompliziert ist. An Herrn Buddenbohm ein ganz fettes Dankeschön für die mutmachenden und unaufgeregten Geschichten. Ich lese schon viele Jahre hier und bin schon genauso lange Fan.Jetzt freue ich mich besonders über diese niedrigschwellige Möglichkeit, ohne Mühe ganz konkret und sinnvoll helfen zu können und ziemlich genau zu wissen, wo das Geld hingeht. Vielen Dank für Eure Arbeit und für dieses Blog!

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