Usedom-Bemerknisse (2)

Wir hatten also, wo war ich denn bei dieser Reise überhaupt stehengeblieben, noch etwa eine Stunde Zeit vor meiner Lesung in Heringsdorf und gingen strandwärts um etwas zu essen, denn strandwärts ist in allen Küstenorten prinzipiell erst einmal richtig. Dort sollte es irgendwo direkt an der Ostsee einen brauchbaren Imbiss geben, hatten wir gehört. Der Imbiss hatte aber zu, geschlossene Fensterläden und zusammengestapelte Plastikstühle, wie es in der Vorsaison an der Küste eben so ist, und zwar an jeder Küste, vermutlich weltweit. Wir wanderten also planlos herum, von geschlossenem Restaurant zu geschlossenem Imbiss und geschlossener Bar und so weiter, Bewohner von Ferienregionen kennen das. Man braucht immer eine Weile, um die auch in der Nebensaison halbwegs verlässliche Struktur eines typischen Ferienortes zu erfassen.

Wir landeten schließlich in einem der wenigen geöffneten Restaurants. Am Tag danach merkten wir natürlich, dass es ein paar Schritte weiter noch wesentlich mehr Auswahl gegeben hätte, das ist ja immer so, wenn man zum ersten Mal durch eine fremde Gegend läuft. Ein deutsches Restaurant war das, mit all dem, was man an der norddeutschen Küste erwartet, Fisch und Schnitzel, Kinderteller, Bauernfrühstück, Bratkartoffeln, das ganz normale Programm, und was die anderen Gäste auf ihren Tellern hatten, das sah sogar recht gut aus. Wie übrigens überhaupt eine einfache Regel gilt – wenn man Fisch essen will, ist Usedom generell goldrichtig. Das gilt sogar für Fischbrötchen, ich hatte dort am nächsten Tag die besten Fischbrötchen seit langer Zeit, wenn nicht sogar überhaupt die besten, die ich je hatte, aber ich schweife ab.

Und dort jedenfalls, wir werden daran noch sehr lange zurückdenken, im Buchen-Eck in Heringsdorf, wobei ich für den Namen des Restaurants allerdings nicht garantiere, ich habe mir nämlich keine Notizen gemacht, warum eigentlich nicht, Herr Buddenbohm? Schlimm. Dort jedenfalls geschah das Restaurantwunder, wir erreichten erstmals überhaupt die volle mögliche Punktzahl im bekannten Spiel “Eine Familie geht in ein Restaurant”:

  1. Beide Söhne haben sich unabhängig voneinander zwei verschiedene, aber doch passend erscheinende Kinderteller bestellt, die noch vor dem Nachtisch-Abschnitt der Speisekarte zu finden waren
  2. Sie haben sich dabei ob der selbstverständlich unfassbar dämlichen Auswahl des jeweils anderen Kindes nicht in die Haare bekommen, sondern sich gegenseitig großmütig einfach mal machen lassen
  3. Sie haben keine seltsamen Sonderwünsche à la “Kann ich bitte nur genau fünf Pommes mit Soße haben” geäußert
  4. Sie haben keine Gerichte haben wollen, von denen wir vorher wussten, dass sie sie garantiert nicht essen werden à la “Doch, heute mag ich ganz bestimmt Schnecken”
  5. Sie haben sich zwei verschiedene und auch noch kinderkompatible Getränke bestellt, ohne sich siehe Punkt 2
  6. Sie haben diese Getränke sogar bestellt, ohne das bekannte halbstündige Drama “Coca-Cola für Kinder ist ein unveräußerliches Grundrecht ” aufzuführen
  7. Sie haben sich beide auf ihre Stühle gesetzt und blieben dort, ich staune beim Schreiben immer noch darüber, die ganze Zeit sitzen
  8. Sie haben es mit buddhistischer Gelassenheit hingenommen, dass einer von ihnen am Fenster saß und der andere nicht
  9. Es war ihnen auch seltsam egal, wer neben Mama und wer neben Papa saß, wofür es allerdings ohnehin keine feste Regel gibt, abgesehen davon, dass es normalerweise immer falsch ist, wie es ist
  10. Sie haben die Wartezeit bis zum Essen nicht genutzt, um das Restaurant zu zerlegen, Tischdeko umherzuwerfen, Speisekarten anzunagen, sämtliche Kerzen im Raum auszupusten und mit geklauten Streichhölzern wieder anzumachen oder auch nur andere Gäste zu behelligen
  11. Sie haben uns nicht einmal lauthals nach den äußerlichen Auffälligkeiten dieser anderen Gäste gefragt
  12. Sie haben die Wartezeit im Gegenteil total sinnvoll für ein feines Konzentrationsspiel genutzt und Kartenhäuser aus Bierdeckeln gebaut, wie wir es früher alle dauernd gemacht haben, als unsere Eltern noch keine iPads oder andere Bespaßungstechnologien dabei hatten, um den Nachwuchs für etwa eine Stunde zu sedieren
  13. Sie haben keines der immerhin vier Getränke auf dem Tisch umgeworfen
  14. Sie haben auch die ganze Zeit über kein Besteck, keinen Teller, keinen Bruder, nicht einmal einen Salzstreuer auf den Boden geworfen
  15. Sie haben tatsächlich das gegessen, was sie bestellt haben
  16. Sie haben es sogar komplett aufgegessen, inklusive ungefragt mitgelieferter Salatblätter
  17. Sie haben sich interessant aussehende Bestandteile der Gerichte ihrer Eltern nicht einfach zur näheren Inspektion und anschließenden Verkostung von deren Tellern gegrapscht, sondern haben geradezu höflich danach gefragt
  18. Sie haben auch das andere bekannte Drama “Nachtisch für Kinder ist ein unveräußerliches Grundrecht und in der Regel als Eis auszuliefern” unbegreiflicherweise nicht aufgeführt
  19. Sie blieben nach dem Essen noch etwas sitzen und haben nicht unter Absingen heiterer Lieder von zweifelhaften Deutschrappern die Bude gerockt, Fangen gespielt oder Rückwärtsrollen im Gang geübt
  20. Sie haben abschließend die Restauranttoilette aufgesucht ohne diese großflächig zu fluten, ohne alle Papierhandtücher auf dem Boden zu verteilen, ohne den Seifenspender aus reiner Neugier auf sein Fassungsvermögen komplett zu leeren und auch ohne sinnlos zu probieren, ob man ein viel zu hoch montiertes Pissoir nicht vielleicht doch in einem besonders hohen Bogen …

Das war schön. Es wirkte komplett unwirklich, es hat sich natürlich bisher nicht wiederholt, aber es war doch sehr schön. Und wir haben auch nur acht Jahre darauf gewartet, dass so etwas wenigstens einmal passiert. Nur acht Jahre, das geht doch eigentlich. Vielleicht wiederholt es sich schon in acht Jahren? Dazu spielen wir Johnny Logans “What’s another year” und summen leise mit. In seliger Erinnerung ans Buchen-Eck in Heringsdorf. Wenn es denn so hieß.

12 Kommentare

  1. Ja, es wir d besser. Und hoppla-hopp sind sie auch schon wieder ausgezogen…..und besuchen einen dann nur noch. Und das ist auch ok so!
    Grüße von Eva

  2. Großartig, sie wissen also doch, was gutes Benehmen ist. Dann kann man sie ja auch zu anderen Eltern zu Besuch geben und damit rechnen, dass diese hinterher von solch angenehmen, gut erzogenen Kindern schwärmen, was man nicht glauben würde, wenn man es nicht einmal selbst erlebt hätte.

  3. Meine beiden Söhne sind 10 und 8 und ich halte diese Geschichte für in höchstem Maße unglaubwürdig. #Lügenpresse

  4. Da musste ich doch herzhaft lachen.
    Auch wenn es bei uns schon länger her ist und ich sogar schon ein oder zweimal von den Kindern in ein Restaurant eingeladen wurde, erinnert mich das so sehr an vergangene Zeiten…

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