Zu den letzten beiden Lesungen musste ich jeweils stundenlang Zug fahren, das mag ich sehr. Im Zug gibt es oft kein Netz, da habe ich also tatsächlich frei, da kann ich in die Gegend gucken oder lesen oder dösen, ich finde das herrlich. Dösen wird überhaupt stark unterschätzt, finde ich.
Der Zug fährt von Nord nach Süd. Ein Mann steigt ein, er wird etwa am Anfang des Rentenalters sein. Seine Frau geht hinter ihm her, sie sieht etwas älter aus. Er wirkt bestens gelaunt, sie eher müde und verhalten. Er verräumt die Koffer, die sind groß und schwer, das wird eine längere Reise. Sie setzen sich, sie haben zunächst einen Tisch für sich alleine. Er sitzt breitbeinig und raumgreifend, sie lehnt sich ans Fenster und sieht ins graue Novembernichts der norddeutschen Tiefebene, das da eintönig vorbeizieht. Er holt ein Fischbrötchen aus einem Rucksack, gräbt weiter darin herum, bis er auch noch eine Flasche Apfelschorle findet. Nimmt das Fischbrötchen in die rechte Hand, die Flasche in die andere und beißt und trinkt abwechselnd, wobei er die Hände an die Tischkanten legt, das ist jetzt sein Revier., das hat er reserviert. Er kaut konzentriert, kommentiert dann das Fischbrötchen, das Fischbrötchen ist gut, jedenfalls für ein Imbissfischbrötchen vom Bahnhof, da weiß man ja nie. Gut und groß mit ordentlich Zwiebeln drauf, so muss das sein. Die Frau nickt und isst nichts.
Er holt eine Regionalzeitung aus der niedersächsischen Provinz heraus und breitet sie vor sich aus, zuerst kommt der Politikteil. Er zeigt mit dem Fischbrötchen auf eine Überschrift, er liest vor, er erklärt seiner Frau kopfschüttelnd die Weltlage, ohne den Rest des Artikels zu lesen. Die Frau nickt. Das Fischbrötchen weist schon zur nächsten Überschrift, er erklärt, das geht eine Weile so weiter. Seine Erklärungen beendet er immer wieder mit einem “Was?” Sie nickt, ja, das wird wohl so sein. Eine junge Frau setzt sich neben die Frau des Rentners, holt ein Notebook heraus, klappt es auf und korrigiert an einem Text herum. Unwillig zieht der Rentner die Zeitung ein Stück zu sich, das ist nicht schön, wenn man auf einmal weniger Platz hat. Er liest wieder eine Überschrift vor, lacht verächtlich, er befindet, dass das alles Idioten sind, die da in der Politik, is’ doch so? Was? Sind sie doch? Er guckt sich um, seine Frau nickt, die junge Frau sieht kurz hoch und sagt “Nein.” Das sagt sie nicht unfreundlich, das sagt sie einfach so, weil es für sie eben nicht stimmt. Und weil der Mann ihr gegenüber nun einmal so fragend guckt, der will ja wohl eine Antwort.
Der Mann guckt sie entgeistert an, er wiederholt sicherheitshalber seinen letzten Satz, die junge Frau hat vielleicht nicht verstanden, worum es gerade geht, manchmal hören Leute nicht richtig zu. Die junge Frau sagt: “Nein”. Und tippt weiter. Er schüttelt den Kopf, er lehnt sich schnaufend zurück und streicht die Zeitung glatt, er sieht zu seiner Frau, seine Frau sieht aus dem Fenster. Er zeigt wieder mit dem Fischbrötchen auf die Zeitung, er guckt die junge Frau an, er macht den Mund auf, er sagt dann aber doch nichts mehr. Er liest still weiter, murmelt nur ab und zu tonlos etwas und guckt auch ab und zu hoch, auf die seltsame junge Frau, die ihn nicht beachtet und weiter arbeitet. Er blättert um, er sieht sie noch einmal an und schüttelt den Kopf.
Jetzt kommt der Sportteil, er liest und rollt die Augen, verzieht angewidert den Mund, lacht kurz höhnisch auf. Er kaut den letzten Bissen, er fingert mit weit offenem Mund nach Fischbrötchenresten zwischen seinen Zähnen. Dann schiebt er die heruntergefallenen Zwiebelringe auf der Zeitung zusammen und steckt sie zurück in die Brötchentüte, knüllt sie zusammen und schiebt sie ohne hochzusehen mit langem Arm seiner Frau hin, die seinen Müll in ihre Handtasche steckt. Sie macht die Augen zu, den Kopf an das Fenster gelehnt.
Dieses „Nein“ brauchen wir noch viel häufiger. Und das Gespräch danach. Aber: Auf Fischbrötchen lasse ich nichts kommen.
Manchmal wünschte ich, du könntest nicht so unangenehm bildhaft formulieren.
Aaahhhh, da steht so viel in Deinem Text!
Einerseits: Was Kiki sagt. Andererseits: gerade drum.
Herrlich in vielerlei Hinsicht! Aber ganz besonders: Ein schlichtes „Nein“ kann so wichtig sein! Danke.
This Article was mentioned on brid-gy.appspot.com
This Article was mentioned on brid-gy.appspot.com
Angry White Male
leider gibt es viele solche Frauen. Ich finde schon Fischbrötchen im Abteil an der Zumutungsgrenze ?
Ach was, Eier sind schlimmer. Und irgendwer isst immer Eier. Immer.
Großartig!
Merci!
De rien.
Schöne Szene, gut beschrieben.
Allerdings sind es nicht immer Rentner. Meist sind es die selbsternannten Alphamännchen Mitte dreißig. Die Rentner sind viel bescheidener.
Ich bin ein Vertreter des Pippi-Langstrumpf-Neins, und auch das sollte man viel öfter benutzen. Pippi-Langstrumpf-Nein? Im Apothekenschaufenster steht ein Schild, „Leiden Sie unter Sommersprossen?“ Na, und dann geht sie eben rein und beantwortet.
Du beobachtest und schreibst einfach groß-ar-tig!!! Solltest Du je an Crowdfunding für ne BahnCard denken: ich bin dabei ?
.
Sehr schön beobachtet.gut wenn mal kein Empfang ist.haben wir alle was von.danke
Ein Text zum an die Wand hängen. Danke @Buddenbohm :-*
twitter.com/Buddenbohm/sta…
This Article was mentioned on brid-gy.appspot.com
bekomme gerne gesagt ich „soll mal nicht so unhöflich/kleinlich sein“ wenn ich alten (u jungen) alpha Männern wiederspreche
Als säße man selbst dabei. Atemberaubend alltäglich, beklemmend, irgendwie vertraut…
ich bin ein riesen fan dieses „nein“.
eine wirklich sehr wunderbare beschreibung.
(und lustig, ich schrieb erst vor ein paar tagen genau über so eine art von nein. es ist ein angemessenes und gutes gegengewicht zu all der schreierei.)
Was für ein Text! Hammer, Buddenbohm, Hammer.
Danke!
..genial beschrieben…toller Text…den wohl fast jeder Bahnreisende so, oder ähnlich schon mal erlebt hat..
Es ist eigentlich schon alles von meinen Vorrednern gesagt. Super beobachtet. Schöne Details. Und das „Nein“ – super!
you made my day!!!
Danke!
Ach je, die arme Frau. Also die am Fenster. Die andere: Großartig. Das schlimmste im Zug sind übrigens nicht die Eier, es sind geschälte Bananen.
Konnte die Zwiebel hier riechen.
Nur eine Minute: „Stressen auf Rädern“
http://www.ardmediathek.de/tv/ttt-titel-thesen-temperamente/Schluss-mit-Moor-Stressen-auf-R%C3%A4dern/Das-Erste/Video?bcastId=431902&documentId=39061528
> (…) die seinen Müll in ihre Handtasche steckt.
An dieser Stelle bin ich zusammengezuckt: Der Satz scheint ihre ganze Beziehung zu beschreiben … guter Satz, fast zu gut 😉