Eine Novelle auf die Schnelle

Ich lese immer weiter in den Tagebüchern von Erich Mühsam, es ist dort immer noch 1911. Er notiert weiterhin seitenlang, welche Frau er wohin geküsst hat, mit welcher er was auf welchem Möbel und in welcher Wohnung getrieben hat, bei welcher Dame er für sich in nächster Zeit welche weiteren Aussichten vermutet, mitunter sogar unter Angabe eines geratenen Timings (“Morgen sicher noch nicht, aber dann!”). Er ist in dieser Zeit auch politisch tätig, im Tagebuch findet das allerdings kaum statt, vielleicht aus guten Gründen nicht, das mag sein. Er ist auch schriftstellerisch tätig, das erscheint im Tagebuch weiterhin nur als gewissensbelasteter Konjunktiv: “Ich müsste jetzt …”, “Ich müsste heute noch …” Immer müsste er dringend etwas schreiben, liefern, anfangen, beenden, korrigieren, aber verlässlich notiert er erst seitenlang im Tagebuch die Küsse des Tages, man muss eigentlich schon von einem Knutschregister reden. Zwischendurch dann aber ganz unvermutet der Satz:

“Heute habe ich seit Jahren zum ersten Mal wieder eine Novelle geschrieben …”

Wenn man selbst auch schreibt, ist so ein Satz natürlich immer ein Angriff. Wie jetzt, der schreibt eine Novelle an einem Tag? Mal eben so, aus dem Handgelenk? Bar jeder Vorbereitung, einfach ran an den Tisch und tschakka. Nanu. Das geht also auch. Und was mache ich hier? Wieso kommt dabei so wenig heraus? Vielleicht sollte ich doch besser endlich mal die ganzen Social-Media-Accounts löschen und offline gehen, vielleicht sollte ich doch mal und jetzt aber ernsthaft und überhaupt wieder ran ans Werk? Novelle, nicht wahr, das klingt ja auch gleich so literaturlexikontauglich, ernst und tiefgründig ausgestaltet. Und so etwas also mal eben nebenbei, wirklich nicht schlecht, Herr Mühsam, Respekt! Denkt man sich da zunächst so.

Bis ein paar Zeilen später dann klar wird, dass es da tatsächlich keineswegs um eine Novelle auf sportlichem Conrad-Ferdinand-Meyer-Level geht. Denn was Mühsam da so edel als Novelle benennt, das ist bei geradezu skandalös luschigem Umgang mit Fachbegriffen (Anarchist eben! Schlimm!) eigentlich nichts weiter als eine kleine und schnell hingehauene Szene, eine Skizze, ein paar Zeilen vermutlich nur, eine schmale Randspalte in einer Zeitschrift, eine Kolumne, eine Glosse, so etwas in der Art.

Oder, wie wir heute sagen würden: “Gebloggt.”

 

3 Kommentare

  1. Wie beruhigend! 🙂 Ihre Gedanken beschleichen mich auch oft, wenn ich zusammenrechne, wieviel Zeit ich mit Social Media verbringe. Doch mangelt es mir an Abstinenz-Disziplin. – Hätte Herr Mühsam damals einen PC gehabt, hätte er für sein Knutschregister eine Excel-Tabelle erstellt. Gewonnen hätte er dadurch aber nix, denn er hätte parallel Social Media genutzt. Und vermutlich ebenfalls keine Abstinenz-Disziplin aufgebracht.:-)

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