Alles kann übers Meer kommen

Ich bin für den Septemeer von Kiki fast schon etwas knapp, aber noch sind ein paar Stunden Zeit, da werfe ich doch noch etwas in die Runde. Eine gekürzte Version der Geschichte “Alles kann übers Meer kommen”, die Teil eines größeren Stücks ist, für das ich wohl noch Ewigkeiten brauchen  werde. Diese Geschichte ist in etwas längerer Version bereits in Buchform erschienen (Hamburger Jahrbuch für Literatur 2017) und ich habe sie auch schon mehrmals öffentlich vorgelesen – da kann sie auch ruhig ins Blog, denke ich.

Ich liefere keinen Kontext, die Geschichte fängt mitten drin an, aber es geht um die Liebe, da findet man dann schon rein. Mit der Liebe kennt sich die eine oder der andere ja aus. Wie es mit Rolf und Miriam dann weitergeht, erfährt man später. Viel später, wenn ich meine aktuelle Schreibgeschwindigkeit bedenke. Wobei es der Sache vielleicht auch gut tut, mal wieder eine Geschichte ins Blog zu werfen, dieses Schreiben auf Vorrat ist irgendwie nichts für mich, stelle ich immer wieder fest.

Die Geschichte ist zwar gekürzt, aber für Blogverhältnisse immer noch länglich, es ist also Zeit genug, eine Tasse Tee dabei zu trinken. Oder was auch immer. Und nun geht sie los:

 

Alles kann übers Meer kommen

 Früher, als es noch gut lief, war Rolf oft mit Miriam nach Helgoland gefahren. Aber erst bei ihrer letzten Reise hatte er gemerkt, dass es die Insel zweimal gab. Zweimal das Oberland, zweimal das Unterland, zweimal den roten Felsen, das Leuchtfeuer, die Düne, zweimal alles. Beim ersten Besuch hatte er nur die eine Insel gesehen, die alle dort sehen, er hatte auch nur gemacht, was alle dort machen, es war ein normaler Inselausflug übers Wochenende. Eine Verabredung aus einer Laune heraus, weil sie die Werbung für die Überfahrt in der Hamburger S-Bahn gesehen hatten. Da hatte er Miriam gerade kennengelernt, als sie diesen Ausflug zur Insel gemacht haben, und sie hatten noch Einzelzimmer im Hotel gebucht. Von denen sie dann nur eines genutzt haben, aber das konnte er vorher nicht absehen. Hätte er bei der Buchung ein Doppelzimmer vorgeschlagen, es wäre seltsam und unbeholfen gewesen, wie ein vorschneller Griff ans Knie oder schlimmer. Es war noch alles offen zwischen ihnen, jede Idee, die eine weiter entfernte Zukunft als den nächsten Tag betraf, war eine heikle Angelegenheit, hätte die Richtung der Geschichte noch ändern können. Weswegen sich Rolf jeden Satz gut überlegte und wochenlang wenig sprach, weil er so viel wollte und dabei so viel nachdenken musste und dann vor lauter Konzentration auf nichts mehr kam. Nach der ersten gemeinsamen Nacht auf der Insel wurde er deutlich gesprächiger, was Miriam tagelang irritierte. Er hörte aber auf zu reden, wenn sie ihn küsste. Sie küsste ihn oft in den nächsten Wochen, denn es gefiel ihr, wenn er wenig und langsam sprach, sie mochte diese bedachte Ausstrahlung. Rolf hatte eine tiefe Stimme, sie fand es gut, wenn er mit dieser Stimme kurze Sätze sprach, das passte auch zu seiner bärigen Statur. Er wirkte dann wie Charlton Heston in einem Katastrophenfilm, der mit einem bündigen „Ich mache das“ im letzten Moment alles doch noch auf den richtigen Weg bringt, er allein. Und alle wissen, er wird es auch schaffen.

Wenn Rolf viel sprach, verlor sich dieser Eindruck. Den gesprächigen Rolf fand Miriam gewöhnungsbedürftig, das war nicht, was sie bestellt hatte. Er sah genauso gut aus wie die schweigsame Version des Mannes, in den sie sich verliebt hatte, er sah wirklich gut aus, aber all diese Sätze? Und so viele davon mit Fragezeichen am Ende. Sie war nie der Ansicht gewesen, dass etwas besser wird, wenn man viel spricht. Das Leben nicht, Beziehungen nicht, gar nichts. Die besten Sachen im Leben waren die, über die man nicht reden musste, fand sie. Sie arbeitete in einem medizinischen Labor und musste tagsüber so gut wie nie reden. Und wenn, waren es präzise Sätze mit klaren Inhalten. Rolf war Dozent und redete beruflich, sie hätte vorher misstrauisch werden können.

Im Laufe der Jahre fuhren Rolf und Miriam mehrmals nach Helgoland, das sie in Erinnerung an die erste Fahrt ihre Startinsel nannten. Er hatte einmal Liebesinsel gesagt, aber das erinnerte sie an Möbelhausprospekte aus den Achtzigern, als sich alle auf einmal diese monströsen Doppelbetten in rundlicher Form kauften, in denen Stereoanlagen und dezente Beleuchtung und manchmal sogar Massagevorrichtungen verbaut waren. Mit großen Kissen in Raubtiermustern und Tagesdecken aus Kunstpelz. Liebesinsel, nein, das ging nicht. Aber Startinsel, das klang gut, fand Miriam. Rolf dachte, dass Startinsel so klang, als müsse es auch ein entsprechendes Ende geben, als würde man ein Rennen über das Meer starten und die Beziehung irgendwann auf Borkum oder so enden lassen, ein paar Inseln weiter eben, auf der Zielinsel. Jede Insel dazwischen ein Kapitel oder ein Level, wie in einem Adventuregame. Und wenn man ein Level nicht schaffte, konnte man vorne wieder einsteigen, reset to Helgoland. Startinsel, das klang komisch, fand er. Aber es lohnte nicht, sich mit Miriam über Vokabeln zu streiten, sie fanden da eh nicht zusammen.

Sie blieben immer ein ganzes Wochenende auf Helgoland, sie schliefen immer im gleichen Hotel, sie machten das immer gleiche Programm. Das Programm war kurz, denn das war das Gute an Helgoland, fanden sie, dass das Programm einfach nicht länger wurde, jedenfalls, wenn man keine Sonderinteressen entwickelte und Hobbyornithologe oder so etwas wurde. Und das musste man ja nicht. Unterland, Oberland, Düne, ein Fischbrötchen, ein Kaffee, ein Bier, Essen. Das Programm war so kurz, dass sie danach viel Zeit hatten, lange im Bett zu liegen und von da auf die Nordsee zu sehen, denn der Blick war der beste, der allerbeste. Vom Bett aus sahen sie den Himmel und die Nordsee und ein wenig von der Düne. Sie sahen ungeheuer viel über und vor sich, sie sahen mehr Himmel, als in der Stadt überhaupt verfügbar war. Den Teil des Himmels, den die beiden tagelang vom Hotelbett aus sehen konnten, hätten sie in der Stadt mit Hunderttausenden anderer Menschen teilen müssen, es war wirklich viel Himmel für zwei Personen. Eine enorme Weite in immer neuen Variationen von Blau sahen sie da. Rolf hatte während eines Juliwochenendes einmal auf dem Balkon gesessen und eine Liste mit Blaunamen angelegt, Dunkelblau, Hellbau, Pastellblau, Taubenblau, Azurblau, Wasserblau, Aquamarinblau, Mitternachtsblau, Heidelbeerblau, es standen auch Unglaublichblau und Überblau auf der Liste, er mochte so etwas. Miriam hatte gesagt, wenn man einfach Blau sagt, dann wird man aber auch verstanden. Rolf hatte auf das Meer gesehen und nach weiteren Begriffen gesucht. Er hatte gerade wieder überlegt, doch einmal Tagebuch zu führen, da hätte er mit diesem Ausblick beginnen können. Er stand am Fenster, sah hinaus und murmelte noch mehr Farbnamen. Er hatte noch nie ein Tagebuch geführt, aber es könnte doch interessant sein, sich selbst zu lesen, dachte er. Miriam saß auf dem Bett und sah auch hinaus, sie konnte sich das da draußen alles ansehen, ohne es zu beschreiben.

Am unteren Bildrand ihres Ausblicks, wo die Wellen an den Strand der Düne schlugen, verlor sich das Blaue des Himmels im Blaugrau der Nordsee, das allmählich ins Graubraune überging, wie Rolf immer weiter murmelnd aufzählte. Dann verlief es weiter ins Braune, fast Schwarze, und wenn es sich bewegte, dann war es eine Robbe. So war der Blick aus diesem Zimmer, und darauf freuten sie sich schon wochenlang vorher. Da konnten sie stundenlang nebeneinander auf dem Bett liegen und gucken, einfach nur gucken. Einmal hatte er sich in den Wochen der Vorfreude vorgestellt, wie schön es sein müsste, bei diesem Blick aufs Meer Sex zu haben und sich dabei passend zum Rhythmus des Meeres zu bewegen. Als sie dann da waren, hatte er gemerkt, dass das Meer gar keinen Rhythmus hat, wenn man es von oben aus einem hochgelegenen Hotelzimmer betrachtet. Es liegt dann einfach nur und strömt vielleicht, wenn man genau hinsieht, langsam etwas zur Seite, aber auch das sieht man manchmal kaum. Da hatte er sich einfach bewegungslos auf Miriam gelegt, ganz ohne Rhythmus und Brandung und Wellengang, und er hatte gesagt, er würde jetzt wie die Nordsee langsam, wirklich ganz langsam nach rechts driften, und zwar genau gemäß der Angaben im Gezeitenkalender auf dem Nachttisch. Das war schön, so zu liegen und langsam zu driften und Miriam lag unter ihm und dachte, dass das seine besten Einfälle waren, diese Einfälle, die so ein stilles Glück ergaben. Ein Glück, das nicht besprochen werden musste und bei dem man sehr nah zusammen war.

Aber erst bei der letzten Reise, als zwischen ihnen nichts mehr in Ordnung war, als er bei jedem Gespräch mit dem Wort Trennung rechnete und sich nicht sicher war, ob es Miriam auch so ging und ob sie deswegen nicht mehr miteinander sprachen, erst bei dieser Reise stieß er auf das zweite Helgoland. Das war, als er zum ersten Mal das kleine James-Krüss-Museum besuchte. Da erst hat er das Helgoland von Miriam und ihm mit dem Geschichtenhelgoland in Verbindung gebracht, mit dem er als Kind vertraut gewesen war. Da erst fielen ihm die Bücher von James Krüss wieder ein, die damals in der Bibliothek der Grundschule standen. All die Geschichten von der Insel, die er mehrmals gelesen hatte. Und er hat gleich dort in den nachgebauten Hummerbuden des Museums in den Büchern etwas quergelesen, weil er sich genauer erinnern wollte. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass die Insel, die er sich als Kind beim Lesen vorgestellt hatte, real war, dass er sie jetzt kannte, gut kannte sogar. Er hatte lange nicht mehr an diese Bücher gedacht. Er stand und las, war gerührt und schüttelte den Kopf beim Blättern.

Als er aus dem Museum kam, konnte er zwischen den Inseln hin- und herwechseln. Er konnte die Zeichnungen aus den alten Büchern mit den Geschichten von Boy und seine Familie über die neuen bunten Bilder direkt vor ihm legen, das ging wie in einem Kinofilm, es wurde einfach übergeblendet. Der Blick über die Nordsee war auf einmal kein Blick über die Nordsee seines Erwachsenenlebens mehr, der Blick war ein anderer als der oben aus dem Hotelzimmer, in dem er immer noch alle paar Monate mit Miriam lag, wenn sie mittlerweile auch nur noch schweigend lagen und lasen.

Er sah jetzt nicht mehr die Nordsee von heute mit Fährschiffen darauf und Windparks darin. Er sah wieder ein größeres, gefährlicheres Kindheitsmeer, an dessen Ufer er klein und voller Erwartungen stand. Er ging in die Hocke, um wieder auf Kinderhöhe zu sein. Und da war dieses Meer da vor ihm für einen Moment wieder voller Abenteuer, voller Möglichkeiten und Geschichten, es war wild, rätselhaft und spannend. Alles konnte über dieses Meer kommen. Sprechende Möwen und ungeheuerliche Stürme und seltsame Menschen in kleinen Booten und Klabautermännner und Hoffnungen und Ahnungen von noch mehr von allem. Die Leute um ihn herum waren nicht mehr irgendwelche Tagestouristen. Das waren Menschen, mit denen man, wer weiß, ganze Abende lang über den Buchstaben M hätte reden können. So ging das doch in den Kinderbüchern, warum sollte es eigentlich nicht mehr gehen.

Geschichten über den Buchstaben M, das war eine Erinnerung an eine Szene bei Krüss. Da saß man abends in einer Hummerbude beisammen und erzählte sich etwas, es ging um das Alphabet. Vermutlich war Boy wegen einer Krankheit bei seinem Urgroßvater untergebracht, oder er war dort, weil sein Schiff zum Festland wegen eines Sturms nicht fuhr, so war das doch immer bei Krüss. Jemand hing irgendwo fest und dann wurde eben erzählt, das war auch bei anderen Autoren so. Es gab einen Fehler im geordneten Ablauf des Lebens, der führte zu all den Geschichten, und am Ende wurde alles richtig und sinnvoll. Und ein Buch wurde dann auch noch daraus. Rolf dachte, dass es immer noch so sein müsste, dass man das doch vom Leben erwartet. Etwas passiert und der ganze Rest wird dadurch erst anders, dann spannender, dann besser. Aber in letzter Zeit lief bei ihm etwas falsch, und alles wurde dadurch immer noch falscher. Und wenn es noch einige Monate so weitergehen würde, dachte er, dann ergibt sich aus all dem auch keine Geschichte mit einem anständigen Ende mehr. Zumindest nicht, was Miriam und ihn betraf, das dann sicher nicht. Und eine Liebesgeschichte ohne Happy-End, so etwas gehörte in finnische Filme, die er nicht sehen wollte, es gehörte aber nicht in sein Leben. Er musste bei seiner Geschichte auf die Wendung zum Besseren kommen. Er dachte sich die letzten Wochen und diese vielleicht schon letzte gemeinsame Fahrt nach Helgoland als Kapitel in einem Buch und fand, er hatte vermutlich nur noch ein paar Seiten Zeit, um etwas zu drehen. Er war wohl schon im letzten Kapitel, nur noch ein paarmal Blättern und dann. Er hatte überhaupt keine Ahnung, wie er vorgehen sollte. Er stand nachmittags am Hotelfenster und sah zum Horizont, von wo überhaupt nichts zu kommen schien.

Als er früher am Tag in dem Museum stand und die Bücher durchblätterte, erschien es ihm so anziehend und schön, sich ganze Abend lang Geschichten zu erzählen. Aber das macht man ja nicht mehr, dachte er, man setzt sich nicht mehr hin und erzählt sich etwas. Man führt doch nur noch kurze Dialoge über Alltagszeug auf, dachte er. Wenn jemand mehr als drei Sätze am Stück redet, dann ist das schon anmaßend, dann lässt er die anderen nicht zu Wort kommen. Dann ist er nicht spannend, dann ist er dominant. Niemand sagt: Komm, erzähl uns die ganze Geschichte, lass dir ruhig Zeit, warte, ich hole dir ein Bier. Nein, man erzählt sich nichts mehr. Man holt nicht mehr aus, man legt sich nichts zurecht. Und vielleicht macht auch das alles schneller, dachte Rolf.

Er wollte am liebsten augenblicklich losschreiben, und bei seiner eigenen Geschichte ganz am Anfang beginnen, wie in einem großen Roman. Er hätte gerne alles aufgeschrieben, er hatte auf einmal tausend Ideen, was dringend aufgeschrieben werden musste. Er hätte ganze Bände konzipieren können, „Mein Leben“, Band I bis V. Dann würde er vielleicht auch keine Therapie brauchen, um seine Problem zu lösen, dann würde er selbst auf alles kommen, das konnte doch sein, er war ja nicht dumm. Miriam stand neben ihm und sah ihn ungeduldig an. Sie fand die Ausstellung im Museum nicht spannend, sie fand James Krüss nicht spannend, sie kannte James Krüss auch gar nicht. Sie hatte Hunger.

Er fing vor Aufregung wieder an zu zittern, wie er in letzter Zeit immer zitterte, wenn er etwas interessant oder aufregend fand, das geriet immer mehr außer Kontrolle. Miriam merkte das natürlich. Sie merkte es, weil sie immer alles merkte, und wenn sie etwas merkte, dann fragte sie auch danach, weil sie subtil nun einmal nicht konnte. Als er sie kennenlernte, kam ihm das frisch und unverbaut vor, mittlerweile hielt es eher für Brutalität. Eine dezente Form von Brutalität, aber es war doch eine. „Was meinst du“, fragte Miriam, nachdem er am Strand versucht hatte, ihr seine Gedanken zu erklären, „du bist keine richtige Geschichte? Was hast du jetzt schon wieder? Und warum hockst du dich dauernd hin?“

Er hat es ihr geschildert, was ihm alles eingefallen war, so gut er es eben konnte. Sehr gut war das nicht. Er hat es ihr noch einmal erklärt, und dann hat er versucht, es ihr anders zu erklären. Er redete und ließ die Hände in den Jackentaschen, damit sein Zittern nicht weiter auffiel. Er sah sie nicht an, er wollte ihren Blick nicht sehen. Sie sagte, sie hätte jetzt wirklich Hunger.

Später saßen sie im Aquariumcafé. Es regnete nicht und es stürmte nicht, es war nicht warm und nicht kalt, es war einfach nur grau und ein wenig frisch. Rolf hatte sich noch nie im Leben so sehr gewünscht, dass das Wetter sich verschlechtern würde, richtig übel verschlechtern, wie in einer Geschichte. Er wollte James-Krüss-Geschichtenwetter mit Orkan und das Schiff fährt heute nicht und wer weiß, ob es morgen fährt, es sieht nicht so aus. Er wollte in die Stimmung von damals zurück und wieder alles für möglich halten. Es wurde schon dunkel, man konnte den Horizont gerade noch sehen, und von da kam keine Wolke, keine einzige schwarze Wolke. Die Nordsee lag ruhig, viel zu ruhig.

Miriam sagte, sie würde ihr Leben durchaus als Geschichte mit Bogen sehen und wo denn das Problem sei. Dann zählte sie ihre Stationen auf, von der Grundschule über das Abitur und den ersten Freund, das erste Auto und den Umzug nach Hamburg und den ersten Job, bis hin zu ihm. Flüssig sagte sie ihm das auf, ohne auch nur über eine Jahreszahl länger nachzudenken. „Du siehst dein Leben nicht als Geschichte“, sagte Rolf, „du siehst dein Leben als tabellarischen Lebenslauf. Und das erklärt auch sonst so einiges, denn ein Excelblatt ist nun einmal keine Romantik, weißt du.“ Dann stritten sie eine Weile, weil ihm ihr Wille zum Profanen auf die Nerven ging, und weil sie ihm vorwarf, er würde wieder in sinnlose Wolkenkuckucksheime abdrehen. Das war einer ihrer Kampfbegriffe, wenn es darum ging, dass er sich zu viele Gedanken über irgendwas machte, das Wort machte ihn seit Jahren wahnsinnig. Man konnte neben oder mit ihr keinen Traum und keinen Wunsch haben, ohne im Wolkenkuckucksheim zu sitzen. Miriam hatte keine Träume, Miriam hatte Pläne, weil Miriam vernünftig war. So vernünftig, dass sie nie etwas erreichen wird, dachte er schon seit Jahren, aber das sagte er lieber nicht. Sie saßen und stritten, das war ganz routiniert. Sie stritten über Geschichten und Lebenseinstellungen und Träume und Erinnerungen, sie stritten über alles, worüber man sich nicht streiten sollte. Es gibt vielleicht gar keine gemeinsamen Geschichten, dachte er irgendwann. Es gibt nur Geschichten, die nebeneinander herlaufen. „Was ist denn unsere Geschichte?“

Er stellte Miriam die Frage in etwas zu aggressivem Tonfall, weil er Lust bekam, immer noch mehr kaputt zu machen, weil es ihm egal war, wie der Abend enden würde und weil er schon ein paar Bier getrunken hatte. „Wie würde man die denn erzählen? Wie fängt sie an, wie kann sie enden? Was für eine Geschichte ist das mit uns?“

„Fang einfach vorne an“, sagte sie, „so etwas fängt beim Kennenlernen an. Die Vorgeschichten schaffen wir heute nicht, besonders deine nicht. Die ist bestimmt sehr komplex, ungeheuer komplex. Im wahrsten Sinne des Wortes.“ Dann hat sie gelacht und das Gespräch verlief etwas friedlicher. Nach einem vorsichtigen und schon gefährlich ungewohnten Kuss und nach der Bestellung von mehr Alkohol. „Alkohol und Erzählen, das passt immer gut zusammen. Also fangen wir einfach vorne an und basteln das zusammen. Wir haben uns jedenfalls in einer Kneipe kennengelernt“, sagte Rolf. „Es war ein Restaurant“, sagte Miriam.

Er sagte nichts, sah in sein Glas und dachte nach. Und nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, konnte er sich nicht mehr erinnern, wie das Lokal ausgesehen hatte. Der Name des Lokals entfiel ihm in derselben Sekunde. Er sah die Leuchtschrift an der Fassade von einem Augenblick zum anderen nicht mehr vor sich. Die Kellner waren weg, die Jahreszeit, alles. Er wusste nur noch, es war ein Lokal in der Sternschanze. Er wusste, sie waren mit Freunden da, zu denen sie längst keinen Kontakt mehr hatten. „Wir waren in einer großen Runde“, sagte er. „Du bist mir erst aufgefallen, als du mich immer wieder angesehen hast.“ Das war ein ganz guter Satz, dachte er, so konnte es weitergehen. Er erinnerte sich tatsächlich gerade nur noch an ihre Blicke an diesem Abend, an irritierende Blicke, die nie auswichen, die immer standhielten, ganz klar, ganz offen, ganz lange.

So sah sie ihn jetzt wieder an. Er ärgerte sich, dass er sich nach über zehn Jahren noch von diesem Blick irritieren ließ. Gleich korrigiert sie mich, dachte er, gleich kommt irgendwas. Weil es zu einfach wäre, wenn er jetzt weiterreden könnte, weil er dann Recht hätte. Weil es dann seine Geschichte wäre und nicht ihre und schon gar nicht unsere. „Du willst etwas sagen“, sagte er, „da sehe ich doch. Lass mich raten, du hast mich gar nicht angesehen, du hast dich nur gewundert, was ich dich so anstarre, ja? Gut. Schon gut. Ich habe gestarrt, weil du gestarrt hast, wir haben uns angestarrt. So haben wir uns kennengelernt. Oder so. Oder was?“

Miriam sagte, dass sie das gar nicht habe sagen wollen, sie würde doch einfach nur gucken. Weil man irgendwie eben gucken müsse, das habe nicht immer eine Bedeutung. „Es kann so gewesen sein“, sagte sie „warum auch nicht. Offen gestanden kann ich mich nicht an Blicke erinnern. Aber wir haben über Nudelrezepte geredet, das weiß ich noch. Sonst hätten wir uns nämlich nicht wiedergesehen, das nächste Treffen war doch eine Einladung zum Essen.“ Rolf sagte, man könne nicht gegen andere anerzählen, er jedenfalls könne das nicht. Man könne vermutlich überhaupt nicht zu zweit erzählen und dass aber in jedem Fall seine Version, in der es um irritierende, rätselhafte und schwer zu deutende Blicke, nicht aber um Nudelrezepte ging, die schönere, die romantischere Variante eines Kennenlernens sei. Und ob sie sich nicht vielleicht seiner Version anschließen könne, sie könnten dann die Nudelrezepte – alleine das Wort schon! – später irgendwo unterbringen. Miriam fand, dass man auch Romantik wahrheitsgemäß erzählen müsse, und am ersten Abend sei da eben keine gewesen, aber so was von gar nicht. Sondern eben Nudelrezepte. Romantik, richtige Romantik gab es ihrer Meinung nach nicht einmal beim Nudelessen, sondern erst Wochen später auf dem Schiff, beim ersten Ausflug nach Helgoland, denn da hätten sie sich doch verliebt. Oder zumindest er sich. Sie habe ja eher nachgezogen.

„Ja“, sagte er, „da habe ich mich verliebt. Weil dir schlecht wurde. Weil dir auf diesem Schiff so fürchterlich schlecht geworden ist, und weil du dabei sensationell gut ausgesehen hast, so schneewittchenblass und ätherisch und etwas hinfällig, wie du da wie drapiert auf diesem Schiffsboden gelegen hast, weil es angeblich gegen Übelkeit helfen sollte, ganz flach zu liegen, das hatte die Kellnerin gesagt.“

„Du hast dich also in mich verliebt, weil ich kotzen musste“, sagte Miriam. „Und du meinst, ich habe ein Problem mit Romantik.“

11 Kommentare

  1. „Miriam hatte keine Träume, Miriam hatte Pläne, weil Miriam vernünftig war. So vernünftig, dass sie nie etwas erreichen wird, dachte er schon seit Jahren, aber das sagte er lieber nicht.“

    Das.

    Danke fürs Mitmachen, ich freue mich sehr.

  2. „Es gab einen Fehler im geordneten Ablauf des Lebens, der führte zu all den Geschichten, und am Ende wurde alles richtig und sinnvoll. “ Was für ein wunderschöner, tröstlicher Satz!

  3. Sven fragt nach den guten Nachrichten. Ich sehe an den Wänden der Häuser im Stadtteil nach, das mache ich gerade immer so; da steht “Elsa ist out”, das hilft uns nicht weiter. Ferner steht da “Miriam P. ist eine Schlampe”, wobei der Nachname voll ausgeschrieben wurde, aus Datenschutzgründen wird der hier aber selbstverständlich nicht wiedergegeben, es ist in Wahrheit auch kein P., so viel Diskretion muss schon sein. Die Erkenntnis zu Miriam P. hat jemand an die Wand der Technischen Fachhochschule geschrieben und zwar mehrfach, fünfmal, zehnmal, immer wieder, die Schrift wirkt hektisch, das war ein Getriebener. Und das mit Miriam kann er jetzt auch vergessen, so viel steht wohl fest. Keine guten Nachrichten. Habe ich übrigens schon erzählt, wie ich mal eine Miriam ins Leben gerufen habe? Das war kurz bevor ich endgültig gar nicht mehr dazu kam, Geschichten zu schreiben, also “richtige” Kurzgeschichten meine ich, damals hatte ich in Wahrheit nicht nur Mühe, überhaupt noch ausreichend Zeit zum Schreiben zu finden, damals wurde es mir auch entschieden zu magisch. Ich schrieb gerade an einer Geschichte, eigentlich an einem Romankapitel, aber das war in diesem Fall austauschbar. Und alles, was ich schrieb, begegnete mir tatsächlich, angefangen bei dieser Miriam. Miriam ist dann später im Manuskript eine andere geworden, es ist die, die man jetzt in der Geschichte “Alles kann übers Meer kommen” findet. Das ist die letzte Geschichte gewesen, die ich geschrieben habe, mit der habe ich dann wenigstens einen Preis gewonnen, im Grunde war das ein schöner Abschluss, fällt mir gerade erst auf. Lange Leitung, Herr Buddenbohm, ganz lange Leitung! Im ersten Entwurf zu dieser Geschichte ist mir Miriam viel zu dominant geraten, zu wütend ohne Grund, zu übergriffig, zu psycho, ich kam erst nach einer Weile darauf, welche unselige Erinnerung ich da verarbeitet habe, und die wollte ich doch gar nicht verarbeiten. Ich habe Miriam auf einer Seite genau beschrieben, ihre schwarzen, langen Haare, ihren stets grundlos drohend wirkenden Blick, sie trug in dieser Szene einen seltsam unmodernen und etwas zu groß geratenen Mantel, dicker Tweed wie aus den dreißiger Jahren, ein Mantel, um darin zu versinken, eine Rüstung. Das habe ich alles wieder gestrichen, das wollte ich so nicht.Am Abend dieser Überarbeitung fuhr ich S-Bahn und eine Frau setzte sich neben mich. Lange schwarze Haare, sie trug einen seltsam unmodernen und etwas zu groß geratenen Mantel, dicker Tweed wie aus den Dreißiger Jahren, eine Rüstung. Sie setzte sich hin und sah mich an, ein seltsam bedrohlich wirkender Blick, ernst und lang. Dann sah sie aus dem Fenster und wirkte empört. Es gibt Menschen, und das sind gar nicht viele, die können Empörung so dermaßen heftig ausstrahlen, dass man es schon auf zehn, zwanzig Meter fühlt und dabei aber gar nicht benennen kann, woran man das eigentlich merkt, man ist in ihrer Nähe und hat sofort Schuld. Pauschal. So eine war Miriam. Ein schwieriger Mensch. Und es ist ja so, wenn man Autor ist und etwas in der Art erlebt – man schreibt am nächsten Tag nicht mehr unbefangen weiter. Denn was macht diese Miriam jetzt da draußen in der Wirklichkeit? An der Frage kommt man einfach nicht vorbei. Wird sie jetzt nicht noch wütender, so ohne Geschichte, aus der sie ohne Gnade gefallen ist, bevor sie auch nur richtig losging? Muss man andere vor ihr warnen oder was? Und Jahre später findet man dann einen Satz an einer Wand und denkt sich so: “Miriam. Ich habe da einen Verdacht.”Das ging aber damals noch so weiter. Ich habe kurz darauf eine Büroszene beschrieben, eine ziemlich unwahrscheinliche und etwas klamaukhafte Szene, weit am Alltag vorbei, aber unerläßlich für die Handlung, denn meine Hauptfigur brauchte einen gewissen Schubs. Mich rief dann kurz darauf ein Kollege aus unserem Büro in München an: “Du wirst nicht glauben, was hier gerade passiert ist …” Da habe ich dann ernsthaft darüber nachgedacht, ob es nicht vielleicht sinnvoll wäre, viel, viel vorsichtiger zu schreiben. Schließlich habe ich noch der männlichen Hauptfigur zu einem Aussehen verholfen, zu einer Figur, einer Frisur, einem Gesicht und einer Haltung, nur bei der Kleidung, da war ich mir nicht ganz sicher, da überlegte ich lange drauf herum. Aber kein Problem, er stieg dann in den Bus, mit dem ich nachmittags fuhr, setzte sich vier Reihen weiter vorne hin – und winkte mir freundlich zu, wobei er sich ans Revers seines Jacketts fasste, als wollte er sagen: “Guck mal, gerade gekauft.” Ich hätte jeden Eid abgelegt, diesen Mann nie vorher gesehen zu haben, also außer in meiner Story natürlich. Ich habe nicht zurück gewunken, ich bin ausgestiegen. Aus dem Bus und aus der Geschichte. Und seit diesem Vorfall, er ist schon bald ein Jahr her, kann ich mich nicht entscheiden. mit welcher Szene ich bloß jemals weitermachen soll. Das will verdammt gut überlegt sein, glaube ich. ****************************************Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, dann grabe ich mich weiter durch den Garten, bis das ein richtig toller Platz zum Schreiben wird. Und dann suche ich mir neue Ausreden. ****************************************

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