Auf der Gewinnerstraße

Am Donnerstag noch am Vormittag mit heftigen Magenbeschwerden aus dem Büro gegangen. An der Ampel beim Hauptbahnhof steht dann ein Vater neben mir, den etwa vierjährigen Sohn auf der Schulter. Und der ist sehr, sehr gut gelaunt, der kräht und lacht und zeigt immer wieder total begeistert nach vorne, mit einer ausladenden Geste, als würde er wilde Ritterhorden in die sicher siegreiche Schlacht führen wollen, “Weiter!”, ruft er, und er ruft es immer drängender, denn der sture Vater will einfach nicht weiter, der bockt, weil die Ampel leider gerade rot ist. “Weiter! Da lang! Los!” Und der Junge zeigt und ruft und ruckelt mit den Beinen, um seinen lahmen Gaul endlich in Bewegung zu setzen. “Weiter! Das ist die Gewinnerstraße!” Wobei er auf den Fußweg zu meiner Wohnung zeigt.

Ich mache mir zuhause eine Wärmflasche, gehe ins Bett und weiß nicht recht, Gewinnerstraße? Aber wenn er meint. Wer weiß.

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Eine ganze Woche keine Kinder in der Wohnung gehabt. Zwischendurch haben die Herzdame und ich uns kurz gewundert, dass die Tage gar nicht super entspannt waren. Wir hatten beide eher etwas mehr Arbeit im Büro, wir hatten viel organisatorischen Kram und natürlich die ganzen Sachen, zu denen man sonst nicht kommt, zack, zwei, drei, vier Tage vorbei. Darüber haben wir uns unterhalten und festgestellt, dass die Woche ganz normal anstrengend war, so sind Wochen eben, das war eine völlig handelsübliche Woche für Erwachsene mit ein bis drei Jobs und Haushalt. Und die Wochen mit Kindern, die sind dann eben noch anstrengender, oder sagen wir ruhig: viel anstrengender. Auch wenn man die Kinder noch so herzensinnig liebt, das löst ja keinen Stress auf. Und das kann man ruhig ab und zu mal feststellen, wie unlösbar der Alltag eigentlich ist, denn dann geht man vielleicht wieder eine Weile etwas toleranter mit sich selbst und dem Partner um.

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Auf der Straße im Vorbeigehen gehört, wie jemand “wegen dem Geld” gesagt hat. Sofort den Impuls gehabt, laut “wegen des Geldes!” zu rufen und mich dann lange über diesen Impuls geärgert, ach, zu spät, du rettest die Grammatik nicht mehr und es ist ja auch Unfug, so zu denken. Als ob ich selbst alle Fallstricke der Grammatik jemals vollständig an Bord gehabt hätte, was jetzt ein höchst unglückliches Bild ist, da können Sie mal sehen, nicht wahr. Stümper überall! Und es ist ja auch egal, soll er doch sterben, der olle Genitiv, da macht ja gar nichts, Sprache ändert sich nun einmal, Goethe ist eine Weile her und es ist viel schlimmer, dass die Insekten sterben, da mal drum kümmern! Sich nicht mit Unsinn befassen. Leben und leben lassen, es ist völlig schnurz, wie die Leute reden, immerhin reden sie noch miteinander, voll schön. Lieber alles aufschreiben, was die Leute reden, Chronistenpflicht und so. Man muss sich zur Ordnung rufen und milde, nett und einfühlsam werden, das ist es, was fehlt. Aggressiv und übergriffig sind alle ganz von selbst.

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Der Hibiskus, denn die Herzdame und Sohn I mit dem beim Magier um die Ecke erworbenen Bewurzelungspulver gerettet haben, ich schrieb darüber, der möchte gerne blühen. Jahreszeitlich ist das dezent verfehlt, aber nun. Wir wollen uns nicht beschweren.

Da ich einen Tag lang nur auf dem Bett herumlag, habe ich einen ganzen Echolot-Band von Kempowski durchgelesen. Der Untergang in Stalingrad in Feldpostbriefen etc., eine absolut furchtbare Lektüre. Dazu rüttelte ein unfassbar kalter Ostwind stürmisch am Dachfenster neben dem Bett. Wenn man dabei dann zwischendurch einschläft, träumt man so schlecht wie seit vielen Jahren nicht mehr. Nicht nachmachen.

Danach mit Flaubert begonnen, Drei Geschichten, neu übersetzt und herausgegeben von Elisabeth Edl. In der alten Übersetzung vor Jahren schon einmal gelesen, zu lange her.

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5 Kommentare

  1. Zum Stichwort Social-Media-Krise fällt mir grad ein, dass ich dieses Blog mal loben könnte! Ich lese hier seit ein oder zwei Jahren regelmäßig mit und fühle mich – bis auf die Gartenthemen ? – (fast) immer bestens unterhalten. Wegen meinem Twitterpausierens bleibt dieses Blog eine meiner wenigen täglichen virtuellen Anlaufstellen, und beim Lesen denke ich oft, Re hat hat er, das stimmt schon so… Habe auch aufmerksam das Experiment verfolgt und mich gefragt, wie das bei uns in zwei bis vier Jahren laufen wird.
    Vielen Dank also, und viele Grüße aus dem Süden

  2. Diesen Echolot-Band mit den Briefen habe ich auch seit Jahren hier liegen und finde nicht den richtigen Zeitpunkt, ihn zu lesen. Jetzt wird das noch schwieriger…

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