Ich sehe eine Luise

Ich bin in Nordostwestfalen und habe an Schwiegermutter Schreibtisch etwas Netz, also kann ich schnell ein paar Links fischen und einbauen, nicht ohne auf besondere Umstände am Abend der Ankunft hinzuweisen:

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Antons Familie.

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Für die GLS Bank habe ich etwas zum Thema Radverkehr zusammengestellt.

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Superkräfte. Immer gut.

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Plastikfischen vor Mallorca.

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Schon lange hat niemand mehr bei „Der Rest von Hamburg“ etwas angelegt, jetzt hat Paula Columna dort für Helgoland gesorgt.

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Wir besuchen die Uroma der Söhne im Altenheim, die Uroma wird neunzig Jahre alt. Die Hitze ist schon wieder zurück und flirrt über dem Land. Die Uroma liegt mit Fieber in einem brutheißen Zimmer, in dem niemand auch nur zehn Minuten verbringen will, aber nach dem Willen kann es hier nicht mehr gehen. Die Uroma hält eine Weile die Hand der Herzdame und wir nehmen an, dass sie uns erkannt hat – erfahren werden wir es vielleicht nicht mehr.

Auf dem Flur sehen wir Dekogegenstände aus vorigen Jahrzehnten, uralte Radios und mechanische Schreibmaschinen, Kinderwagen mit Korbgeflecht aus den Fünfzigern oder auch noch älter. Dinge, die die Menschen dort an ihre jungen Jahre erinnern, als es vielleicht noch nach ihrem Willen ging. An einigen Türen hängen Jugendbilder der Bewohnerinnen, Menschen in schwarzweiß, die vor Feldern oder Häusern stehen und unsicher in Kameras gucken, weit, weit vor der Selfie-Zeit. Da waren Bilder noch eine ernsthafte Angelegenheit, da machte man keine Faxen dabei.

Eine hundertjährig aussehende Dame läuft über den Flur, sie hat sich ein Geschirrhandtuch als Kopftuch umgebunden, wie man es früher trug, wie man es von Abbildungen kennt, als alle Frauen hier noch Kopftuch getragen haben. Das ist nicht sehr lange her, die Kinder heute kennen das von den Hexen im Bilderbuch und vielleicht aus dem ganz alten Fotoalbum. Die Dame trägt das so, weil sie sich damit vermutlich besser fühlt, richtiger angezogen, vollständiger. Oder weil man das als Frau in Deutschland ihrer Erinnerung nach nun einmal so macht.

Ein alter Mann geht vorbei und sieht uns an oder auch nicht, das kann man nicht recht unterscheiden. Auf dem T-Shirt der Altenpflegerin, die ihm langsam nachgeht, steht: „The beer that makes the days fly by.“ Das ist die Werbung für Duff Beer – und das war auch schon wieder damals, dass man darüber beim Fernsehen gelacht hat.

Vor dem Altenheim gibt es einen Ort der Erinnerung, da liegen Feldsteine mit darauf geschriebenen Namen der Verstorbenen. Manche Namen sind in Schönschrift geschrieben, manche auch eher nicht, je nachdem, wer gerade Zeit oder Dienst oder Lust hatte, nehme ich an. Manche Namen sind schon verblasst, manche scheinen lange, lange zu halten, je nachdem, welches Schreibgerät gerade da war, nehme ich an. Alle sind in schwarzer Schrift geschrieben, Vorname und Nachname. Ein einziger Stein ist weiß beschriftet, darauf steht nur ein Vorname. Was mag da denn bloß die Geschichte sein? Die Männer auf den Steinen hießen fast alle Wilhelm, erst nach einer Weile fallen ein paar andere Namen auf, Walter und Albrecht und Werner, aber das waren die Ausnahmen, hier gedenkt man einer wilhelminischen Generation, was geschichtlich natürlich nicht hinkommt. Die Namen der Frauen fallen viel abwechslungsreicher aus.

Die Söhne und ich spielen „Ich sehe was, was du nicht siehst“ mit den Namen auf den Steinen dort, denn Kinder sind immer Kinder und Erinnerungskultur geht auch anders. Ich sehe einen Wilhelm, ich sehe eine Luise.

Die Söhne fragen, ob die Uroma dort auch einen Stein bekommt. „Ja“, sage ich, „so sieht es wohl leider aus.“

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Wir gehen im Heimatdorf der Herzdame durch Felder spazieren, an deren Rändern stehen Bäume mit schon buntem Laub, das macht die Hitze. Der Regen vom Vortag ist schon wieder verpufft und vergessen, der Boden ist rissig und betonhart. Die Felder sind früh abgeerntet, das macht auch die Hitze, und ja, die Stoppelfelder sind gelb, der Ohrwurm drängt sich auf, uhund der Heherbst beginnt. Das wird dann aber ein verdammt langer Herbst, ein Halbjahresherbst wird das. Rot leuchtende Beeren in den Büschen, strohfarbenes Laub in der Birke, verdorrter Mais auf einem Acker, der kommt auch bald weg, der wird nichts mehr, der hatte keine Chance. Verdorrtes Gras und verdorrte Blumen, alles raschelt dürr in einem allzu warmen Wind, der nichts belebt und nicht erfrischt, der lässt es nur rascheln und immer weiter rascheln.

Die Stachelbeeren und die Johannisbeeren hängen überreif in den Büschen auf dem Hof, die hat die Uroma immer gepflückt und verarbeitet, das kann sie jetzt nicht mehr.

Auch hier sind die Gräben ringsum trocken und trennen nichts mehr, an ihren Böschungen zirpen vereinzelte Grillen. Ein seltsames Verb, finden Sie nicht? Ich zirpe, du zirpst, er, sie, es zirpt. Laut Wikipedia ist das Fachwort dafür Stridulation, das denke ich mir jetzt nicht aus, so heißt das wirklich, wenn man ein Geräusch durch Reibung zweier gegeneinander beweglicher Körperteile macht. Wenn Sie also jetzt Ihre Beine aneinander reiben und sich dabei z.B. ein raspelndes Geräusch ergibt, dann stridulieren Sie. Ob das dann aber auch der innerartlichen Kommunikation dient, wie es sich in der freien Natur gehört, da drängen sich sofort Zweifel auf.

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Maximilian Buddenbohm von Smilla DankertSmilla Dankert hat Fotos von mir gemacht, die ich als Profilbild verwenden kann – und schon wegen der Frisur wurde es auch höchste Zeit für neue Bilder, ich habe mich ja doch etwas verändert. Vielen Dank!

 

 

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Die Söhne klopfen nachmittags auf dem Hof Kronkorken platt, wozu sie besonders schwere Hämmer nehmen, die haben sie aus den Werkzeugkisten des im letzten Jahr verstorbenen Uropas, sie gehören jetzt ihnen. Der Uropa hatte viele handwerkliche Berufe und viele Werkzeuge, nicht alle versteht man auf den ersten Blick. Aber einen Hammer, na klar, den kann man richtig einsortieren. Es hat natürlich überhaupt keinen Sinn, Kronkorken platt zu hauen, aber der Vater der Herzdame hat enorm viele davon gesammelt, und da man sie platt hauen kann, machen sie das eben jetzt, und zwar mit Feuereifer. Während der Rest des Dorfes es vorzieht, sich bei der Hitze möglichst gar nicht zu bewegen und irgendwo im Schatten sitzend oder liegend den Tag verdöst, hocken die beiden auf dem Asphalt und arbeiten unermüdlich und konzentriert. Wenn sie einen Kronkorken plattgehauen haben, werfen sie ihn in einen alten Blechmülleimer, es scheppert kurz und sie zählen laut. „Siebenundachtzig“ ruft Sohn I, „Sechsundachtzig“ ruft Sohn II, schon sind sie durcheinander, zählen aber ungerührt irgendwo weiter, wen kümmert die Genauigkeit. Aus unklaren Gründen freuen sie sich dennoch über jeden erreichten Hunderter, das macht es irgendwie noch sinnloser, irgendwer ruft irgendwelche Zahlen. Ich sitze auf einem alten, längst ausrangierten Schaukelstuhl mit einem Kaltgetränk daneben und gebe sinnlose Kommentare ab, während der Hund im Kreis um uns herum geht, was ebenfalls überhaupt keinen Sinn hat.

Man muss schon Urlaub haben, um so gründlich ohne Sinn auszukommen. Je sinnloser der Urlaubstag, desto sinnvoller der Urlaub, um mal wieder besonders tief am Grund entlang zu schrammen.

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Am nächsten Tag gehen wir in den Potts Park und schaffen alle wichtigen Attraktionen, bevor die Hitze endgültig unerträglich wird und man das sichere Gefühl hat, auf dem Weg zwischen zwei Fahrdrehflugdingern kurzgebraten zu werden. Die Kinder sind glücklich, denn mit diesem Besuch hatten sie nicht gerechnet – und da war er dann schon wieder, der Sinn. Den wird man irgendwie auch nicht los.

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Nächster Halt: Berlin.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, dann setzen wir den Eiskonsum auf hohem Niveau fort. Und das zählt zur Zeit als gute Tat, da kann man mal sicher sein.

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7 Kommentare

  1. Danke für das Übernehmen meiner Helgolandreise in ‚Der Rest von Hamburg‘, es ist mir eine (kleine, mittlere, große?) Ehre, auf alle Fälle freue ich mich darüber!

    Die Urgroßmutter ist ja anscheinend am richtigen Ort aufgehoben, so alt zu werden ist leider kein Kinderspiel.

  2. Der Herr Buddenbohm hat die Haare schön! Und keine hätte das besser in Szene setzen können als Smilla Dankert.

  3. Im „Potts Park“ war ich vor knapp vierzig Jahren mal und hatte das bis eben fast vollständig vergessen. Was für ein Flashback!!

    Und danke für diesen wunderbaren Text!

  4. Ich frag mich ja schon ständig, welches Ostwestfälische Dorf das denn sein mag, aber man will ja nicht neugierig scheinen, obwohl man es ist. Ich komm da ja auch „weg“, vom Fuße des Wiehengebirges. Das lag von meinem Dorf aus im Norden wie ein gestrandeter Wal, und auch heute noch sortiere ich mir die Himmelsrichtungen, egal wo ich im Lande bin, daran, wie sie zum Wiehengebirge stehen.

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