Bleiberecht für Novalis

Ich habe den letzten Band von Gerhard Henschel durchgelesen, ich habe gestern das letzte Büchereibuch zurückgegeben, ich kann also mit dem großen Winterprojekt Wiederlesen beginnen. Wozu ich mich sinnend wie son Intellektueller vors halbwegs aufgeräumte Regal stelle und erst einmal abwäge. Wir haben gerade sechs Kartons Bücher verkauft, es ist jetzt hier und da tatsächlich etwas Luft zwischen den Büchern, man sieht sie alle recht gut, die Verstecke sind rar geworden, selbst das Unterholz der Reclambändchen wirkt zugänglich. Ganz oben links die bereits erwähnten vier Bände Novalis, die Ausgabe von Kluckhohn und Samuel, erschienen mutmaßlich 1928 in Leipzig bei Meyer in der Klassikerreihe, gedruckt in einer Type, die mir heute eher nicht mehr lesefreundlich vorkommt, um es betont milde auszudrücken. Leinen in stark verblichenem Grün mit Goldprägung, es gibt eingeheftete Facsimilia der Handschrift und anderes Bomusmaterial. Schon schick. Die Wiederlesewahrscheinlichkeit ist allerdings nicht im messbaren Bereich, schon gar nicht in dieser Schrift, da brauche ich bald eine Lupe. Kurz reingesehen, Die Lehrlinge von Sais beginnen so:

“Mannigfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen , in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjunkturen des Zufalls erblickt.”

Wer kennt es nicht, wie man da so unter uns Bloggern sofort anfügen möchte, nicht wahr, die große Chiffernschrift, wir lesen ja quasi nichts anderes und haben genau zu diesem Zweck Eierschalen und ähnliches Zeug auf den Schreibtischen herumliegen oder strolchen durch wimmelige Fußgängerzonen und stehen konzentriert entziffernd in überfüllten S-Bahnen, so läuft das doch. Vielleicht könnte ich da entgegen der ersten Erwartung noch weiterlesen, wenn ich so drüber nachdenke, aber dann in anderer Ausgabe. Diese hier kann aber dennoch gerne bleiben, da sie mich freundlichst an meine Zeit im Antiquariat erinnert, in der ich noch Bücher als Gehalt bekommen habe. Der Geruch des Laden steigt immer noch aus den Seiten auf, wenn ich einen Band irgendwo aufschlage. Und so schlecht sind die Erinnerungen nicht, die sich mir da schwankend nähern (mehr dazu, kurzer aber hier notwendiger Werbeblock, in meinem Buch “Marmelade im Zonenrandgebiet”). Novalis bleibt also, Novalis riecht gut.

Frontispiz Novalis

 

***

Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

************************

Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank.

************************

Ein Kommentar

  1. Die Stadt, in der Novalis wirkte und begraben ist, ist meine Heimat und Geburtsort.

    Die (wenigen) Touristen, die wegen ihm hierher kommen, wirken immer etwas speziell und fremdartig, vor allem in der ausgebluteten ostdeutschen Arbeiterstadt hier.

    Ich freue mich immer, wenn ich sie sehe und so sollte es einem auch mit so einer speziellen Novalisausgabe gehen.

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert