Vom Verschwinden der Lektüre und der Zunahme der Bildung

Und dann war der Dritte Mann von Graham Greene auf einmal weg. Das passte zwar inhaltlich ganz gut, war aber doch ziemlich irritierend. Ich hatte das Buch beim Kochen neben den Herd gelegt, denn beim Umrühren kann man ja lesen, nach dem Essen war es nicht mehr da. Ich habe etwa eine Stunde intensiv nach dem Buch gesucht, ich habe sämtliche Familienmitglieder wahnsinnig gemacht, das Buch war weg, es war sowas von weg, es hat sich ein paar Zentimeter neben mir dematerialisiert. Ich habe nach einer Weile auch im Tiefkühlfach und in Räumen gesucht, in denen ich den ganzen Tag nicht gewesen bin, sogar im Treppenhaus. Ich habe sämtliche Comicstapel im Kinderzimmer umgewälzt und etliche Schränke geöffnet, in die ich sonst nie sehe. Ich habe etwas altes Zahngold gefunden und den letzten Brief meiner verstorbenen Freundin J., ich habe lange verschollene Playmobil- und Legoteile gefunden, aber nicht das Buch.

Kennen Sie das, dass es einen seelisch unangemessen erschüttert, wenn man etwas nicht finden kann? Als würde das Chaos bösartig ins Leben einbrechen und sich da breit machen wollen, als wäre die Ordnung des Alltags fortan grundsätzlich gestört, als würde ein wenig Sicherheit wegbrechen und eine gefährliche Lücke aufreißen. Ich ging irgendwann höchst unzufrieden und irritiert ins Bett, aber ich stand noch dreimal wieder auf und suchte doch noch weiter, auch im Müll, auch im Altpapier, auch in der Schublade unterm Herd. Das Buch blieb verschwunden.

Schließlich las ich stattdessen einfach in der Kinderbibel weiter, die immer noch wegen der Religionsarbeit von Sohn I neulich auf meinem Nachttisch liegt. Die Geschichte von David und Goliat, der da tatsächlich ohne h am Ende geschrieben wird, wie sieht denn das aus? Ich erinnere die Schreibweise anders. Die Geschichte jedenfalls kennt man, die kenne auch ich. Aber hätte ich darüber eine Klassenarbeit schreiben müssen, ich hätte doch zwei Punkte Abzug in Kauf nehmen müssen, immer ehrlich bleiben. Denn dass der zuständige König auf Davids Seite Saul hieß, das hätte ich nicht mehr gewusst, und dass Goliath zur Mannschaft der Philister gehörte, das ebenfalls nicht. Und was sind oder waren eigentlich Philister? Da habe ich dann noch einmal zehn Minuten in der Wikipedia herumgelesen, beflissen wie ich bin. Ein schönes Beispiel dafür, wie mein fleißig gepflegtes Wiederleseprojekt der Allgemeinbildung auf die Sprünge hilft, allerdings ohne dass ich die leiseste Ahnung habe, ob ich mit diesem speziellen Wissen jemals etwas anfangen kann. Aber man weiß ja generell selten, wozu man etwas weiß, wenn ich das mal so tiefsinnig abschließen darf.

Der Dritte Mann wurde dann übrigens heute im morgendlichen Trubel gefunden, in einem kleinen Schapp, in dem wir nur leere Batterien aufbewahren und das wir entsprechend selten öffnen. Ein Schapp, wenn Sie das Wort nicht kennen, ist hier im Norden ein Schrank oder ein Fach, irgendwas mit einer Tür davor jedenfalls, das ist ein betont heimatliches Wort. Ein Sohn wollte das Buch gestern aus der Küche zu meinem Schreibtisch tragen und auf dem Weg noch schnell zwei Batterien weglegen, da hat er es versehentlich dort deponiert und sofort vergessen – so etwas passiert.

Es hat mich etwa zwei Stunden gekostet, aber immerhin weiß ich durch die umfangreiche Suchaktion jetzt wieder ziemlich genau, was alles in dieser Wohnung wo genau ist. Auch recht!

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Im Vorbeigehen gehört:

“Sie ist keine Heilerin oder Seherin oder so etwas, sie ist eher chinesisch.”

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Musik!

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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4 Kommentare

  1. Zum verschwundenen „Dritten Mann“: Ich vermute ja manchmal, es gibt Raum- und Zeitspalten oder so was Ähnliches, durch die sich Dinge de- bzw. rematerialisieren …

    Zu Goliat(h): Ist eben die Frage, wie Hebräisch am sinnvollsten zu transkribieren ist. Ich bin auch oft leicht irritiert, wenn einige th’s, die mir seit meiner Jugend vertraut sind, in neueren Überetzungen zu einfachen t’s geworden sind (betrifft auch manche andere Namens-Schreibweisen in der Bibel).

  2. Das kenne ich so gut, beim Kochen lesen, das habe ich immer so gehalten. Meine Familie war zum Glück tolerant genug zu akzeptieren, dass auf die Weise keine Meisterschaft am Herd zu erwarten war. Oder lesen Sie etwa auch Kochbücher?
    Und Sachen verschwinden, bei mir immer öfter. Ich schiebe es ängstlich auf das Alter und befürchte Pathologisches. Dabei stellt sich später oft heraus, dass gedankenlos quasi im Vorbeigehen Ordnung geschaffen wurde (wie vom Buddenbohmschen Sohn). Das beruhigt dann wieder.
    Aber ich kenne dieses unruhige Mäandern beim Suchen gut, zu glauben, man habe wirklich überall schon nachgeschaut. Diese Unbegreiflichkeit, die nicht ruhen lässt.

  3. Ich schmeiß mich weg!! Vor Lachen. Allerdings tauchen bei mir diese Dinge dann nicht mehr auf, oder unter’m Bett! Wie auch immer sie dann dort hinfinden…

    Einen angenehmen Dienstag!

    Franziska

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