Auf dem Katamaran zurück nach Hamburg. Einen Tisch weiter kniffelt ein Paar und sie schüttelt die Würfel in den Händen viel zu lange, als wäre alles unter einer Minute ungültig oder so. Einen Becher haben sie immerhin nicht, das wäre noch viel lauter. Aber es klackert auch so ohne Ende zwischen ihren Fingern, warum schüttelt man denn Würfel bloß so lange? Dann würfelt sie endlich und freut sich laut jauchzend und klatscht entzückt in die Hände, dass das ganze Oberdeck Bescheid weiß. Warum sind alle Menschen so laut oder warum werde ich immer geräuschempfindlicher? Vermutlich liegt es am Alter, vermutlich geht es allen so. Sagen Sie jetzt nichts.
Noch einen Tisch weiter spielt ein Dreigenerationenverbund Karten, die reden dabei aber kaum ein Wort, das ist auch wieder erstaunlich. Die gucken nur ernst und spielen und spielen, es nimmt überhaupt kein Ende, immer wieder wird wortlos aufgenommen und abgelegt, ich erkenne nicht, was das sein kann, was sie da spielen, und das Spiel scheint sie weder zu freuen noch zu ärgern, sie bleiben alle ganz ausdruckslos. Während der ganzen Überfahrt holt keiner von denen auch nur einmal ein Handy heraus, die sitzen da wie in den Achtzigern, dazu passende Frisuren haben sie auch. Seltsam.
Die Familie neben mir hat drei Kinder und das vergisst man auch erstaunlich schnell, nein, das verdrängt man erstaunlich schnell, wie intensiv man in der Kleinkindphase als Familienrudel durchdringend nach Feuchttuch riecht.
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Ich sitze mit dem Notizbuch im Anschlag auf dem Katamaran. Die Leute hinter mir:
“Guck mal, der malt.”
“Nee, der schreibt.”
“Na, das ist ja auch ganz schön.”
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Auf Helgoland gibt es einen Edeka-Markt, der ist gar nicht mal so groß, jedenfalls nicht, wenn man ihn mit Großstadtmaßstab betrachtet, aber doch immerhin ziemlich groß für Helgoland, wo alles sonst recht klein ist. Der ist so vollgestopft, dass es in ihm vermutlich alles gibt, was es in unserem Riesenedeka im kleinen Bahnhofsviertel auch gibt, nur jeweils viel weniger Exemplare davon. Es gibt sogar eine winzige Käse- und Wursttheke und die Gäste schieben sich beim Einkauf mit kleinen Schritten und erhobenen Armen aneinander vorbei, weil kaum Platz irgendwo ist, es muss ja alles mit Waren vollgestellt werden, jeder Meter und jede Ecke, jeder Winkel, die Menschen können hier nicht mal eben irgendwo anders einkaufen, sie müssten dafür erst Schiff fahren. Und dieser Laden, das wollte ich eigentlich sagen, der riecht wie die kleinen Läden meiner Kindheit. Ein zusammengestopftes Vollsortiment auf gefliestem Fußboden, alle Waren so eng beieinander, dass sich sämtliche Gerüche und Düfte überlagern, die Äpfel und der Käse und das Fleisch und die Kräuter und die Blumen, die Brötchen und die zurückgebrachten Bierflaschen und der Fisch, der Kaffee und das Suppengrün, das ballt sich alles dicht zusammen und riecht im Ergebnis nach „Einkauf, etwa 1972“. Und so roch auch später noch der kleine Laden in Travemünde, in dem ich meinen allerersten Job hatte und in dem mir beigebracht wurde, wie man beim Bedienen mit dem Daumen auf der Waage – na egal. Opa erzählt vom Krieg. Wenn Sie jedenfalls nach Helgoland kommen, dann achten Sie mal darauf, dann schnuppern Sie mal, ich denke, das geht nicht nur mir so.
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Beim Frühstück im Hotel sehe ich die Senioren des Tages. Vielleicht gehört es zur alternden Gesellschaft, dass mir neuerdings jeden Tag beschreibenswerte Rentner auffallen, es laufen eben sehr viele davon herum. Also nicht nur auf Helgoland, überall im Land. Die Senioren des Tages jedenfalls betreten den Frühstücksraum etwas mühsam, weil sie gebeugt gehen, da stimmt etwas mit den Rücken nicht mehr, sie sind weit vornübergebeugt und das Besondere ist, dass sie parallel gebeugt gehen. Beide in der genau gleichen verschobenen Körperhaltung, als hätten sie das so einstudiert, als sei das hier Kleinkunst, komm, wir spielen mal Senioren, aber natürlich ist das kein Spiel. Die machen einfach auch das noch gemeinsam, das Gebeugte und das Schwere, das andere haben sie ja auch alles gemeinsam gemacht, nehme ich jedenfalls an. Und als sie ihren Tisch erreichen, können sie sich nicht einigen, wer wem beim Hinsetzen helfen soll, er schiebt ihren Stuhl zurecht, sie langt nach seinem. Als sie endlich stöhnend niedergesunken sind, lachen sie beide: Haben sie das auch wieder geschafft.
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Ich habe auf Helgoland wieder mit etwas begonnen, was einem in Zeiten des Internets leicht abhanden kommt, nämlich mit dem völlig inputfreien Herumdenken. Einfach so in die Gegend gucken und abwarten, was vielleicht kommt, das habe ich in letzter Zeit sicher zu wenig gemacht. Aber da ich jetzt den Wirtschaftsteil nicht mehr mache, muss ich auch keinen Links mehr hinterherjagen, ich muss nicht mehr irgendwo dranbleiben, ich kann auch einfach wegbleiben, das ist auch mal schön. Wegbleiben und abwarten, ob dann was übrig bleibt. Oder so. Ich lese weiterhin Blogs, weil ich Blogs nun einmal mag (zur Melodie von „weil ich „Paris nun mal so mag“, die Älteren erinnern sich), ich sehe morgens auch kurz in die Hauptnachrichten, und alle anderen Artikel sind mir jetzt erst einmal für eine Weile egal. Ich erwarte aber nicht, dass dabei etwas Geistreiches herauskommt, das ist eher Kurbetrieb und dient nur der Normalisierung.
Das mit dem Geistreichen ist ja ohnehin so eine Sache, finde ich. In einer Mail an mich wurde ich gerade (vielen Dank noch einmal!) überaus freundlich als “scharfsinnig” bezeichnet, ich möchte da in aller Deutlichkeit widersprechen. Nicht als fishing for compliments, nein, ich denke tatsächlich, ich bin eher bemerkenswert unscharfsinnig. Ich möchte fast sagen, ich denke meistens mehr so mit Weichzeichner. Also wenn ich mir dafür mal einen freundlichen Ausdruck zubilligen möchte.
Aber nun, Weichzeichner haben auch Vorteile, in gewissen Momenten.
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Noch ein paar Bilder von der Insel? Bitte sehr.
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Musik! Heute eine Zigarettenlänge Ravel.
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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.
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Ich glaube, dass Kartenspieler verkniffener sind als Kartespieler. Ich kannte mal einen Geschäftsmann, der sehr gern Skat spielte. Zu einer jährlichen Einladung einer befreundeten Firma meldete er sich immer zum Knobeln an: Ich will da Spaß haben!
Lieber Meister, ich bin entzückt über Ihren Helgoland-Reisebericht. Vom dortigen Edeka und von der Idee, Dinge oder Menschen mit „Weichzeichner“ zu sehen. Mittlerweile gehöre ich auch zur Liga der Rentner, fühle mich also angesprochen. Krumm im Gleichschritt gehen wir derzeit noch nicht. Wir arbeiten dran! Kurz nach meinem Abschied wurde meine Redaktion übrigens verkauft, zog 2-mal um und sitzt nun ausgedünnt am Gänsemarkt. Es ist bitter. Was ich eigentlich sagen wollte: Dietmar Bittrich stellt wieder Geschichten zusammen für einen launigen Weihnachtsband. Vielleicht fällt Ihnen etwas Passendes ein?? Mit herzlichen Grüßen, Heidi Fröhmert
Als jemand, der seit Jahren ohne die erforderliche Sensorik wieder Laufen lernt („mit den Augen“), habe ich für die Altersbeuge die zusätzliche Theorie, dass es beim Balancieren mit verminderter Reaktionsgeschwindigkeit sicherer ist, nach vorne gebeugt zu sein. Der Fuss hat nach hinten keinen Hebel und der Kopf keine Augen.
@Heidi Fröhmert: Für die Ausgabe 2019 wird es doch sicher schon zu spät sein.
Ich habe die ersten 43 Jahre meines Lebens in Osnabrück gewohnt. Ich habe es weichgezeichnet: Das Hässliche und die Grauschattierungen, Die Mittelmässigkeit und das Bodenständige, den Nieselregen und die Miesepetrigkeit. Seit 6 Jahren lebe ich zwischen Bodensee und Alpen. Ich geniesse die Konturen: Die Klarheit und die leuchtenden Farben, Das Atemberaubende und das Abgehobene, die Leichtigkeit und Fröhlichkeit. Für den nächsten Arbeitsurlaub: Du bist eingeladen, ihr seid eingeladen, voll mein Ernst. Ganz ohne Überfahrt.
Sehr schöne Fotos! Ist die Nordsee wirklich so grün? Da muss ich bald mal wieder persönlich nachgucken!
Ich mag Deine Weichsinnigkeit.