Ich sehe gerade, ich habe 2016 etwas von alten Notizen geschrieben, die ich noch verbloggen wollte, das habe ich aber vermutlich nie gemacht, ich kann mich zumindest nicht daran erinnern. Und wenn ich es doch gemacht haben sollte, dann macht das auch nichts, das weiß ja schon wieder kein Mensch mehr. Diese Notizen verarbeite ich also jetzt. Sie merken, ich ziehe das Aufräumjahr nach wie vor durch, und wie ich das durchziehe. Auch aus den letzte Ecken der Regale fallen mir dabei noch alte Notizbücher entgegen, halb gefüllt, dreiviertel gefüllt, mit nur einem Satz darin, in allen Varianten. Es sind in diesem Fall Notizen, die vielleicht trotz der verstrichenen Zeit nicht schlecht geworden sind, es geht da um eine Zugfahrt von München nach Hamburg. Das ist eine Zugfahrt, die bei uns ein jährliches Ritual ist, immer nach dem Südtirolurlaub fällt die an, und wie das bei Ritualen und Traditionen so ist, wenn man darüber in dem einen Jahr etwas schreibt, dann ist es drei oder vier Jahre später nicht zwingend ungültig und entwertet, siehe auch Weihnachten, Sie kennen das. In diesem Jahr war das weiter unten erwähnte Bier zur Abwechslung und kraft neuerer Beschlüsse alkoholfrei, das schon – aber sonst? Die Zugfahrten geraten mir in der Erinnerung ohnehin durcheinander wie die Gedanken kurz vorm Wegdösen irgendwo in der Mitte des Landes, während man im ICE an Städten vorbeifährt, die man gar nicht recht kennt, und deren Namen nicht immer so klingen, als sei es überall besser, wo ich nicht bin. Aber was weiß man schon als Durchreisender?
“Die Reisenden dämmern langsam weg, jeder auf seine Art. Hände an Wangen, Stirne auf Fäusten, verrutschte Brillen und derangierte Frisuren, sinkenden Zeitungen, Bücher auf Halbmast und auf den Tischen nicht zu Ende gegessene Brötchen, die nach zwei, drei weiteren Stationen allmählich nicht mehr gut aussehen oder sogar auf dem Boden liegen werden. Der Zug wackelt sacht und das Land rauscht in der Dämmerung vorbei, es ist sehr ermüdend. Einer liest Zeitung, einer liest etwas auf dem Handy, eine macht ein Kreuzworträtsel. Einer erstellt eine Powerpointpräsentation über Schlagbohrmaschinenmarketing, das ist wohl sein Beruf und er sieht gar nicht unglücklich dabei aus, denn dem Menschen ist wirklich fast alles möglich. Eine liest einen Krimi, der in Bozen spielt, das sieht man auf dem Titelbild. Eine im Teenageralter guckt etwas auf Youtube, lacht sich bemüht leise kaputt und sieht ab und zu auf die Eltern, die ihr gegenüber sitzen und sie die ganze Zeit todernst ansehen. Zwei Kleine gucken Bernard und Bianca auf einem Tablet. Einer hört Element of Crime über Handy und Kopfhörer und schreibt dabei einen Blogeintrag mit Kuli in ein Notizbuch, und das geht auch.
Element of Crime schrammeln von Kaffee und Karin und der Zug schaukelt im Takt oder doch immerhin fast im Takt, das ist eine der kleinen Freuden. Draußen wird es dunkler und die Landschaft wird flacher, im Waggon wird es kälter. Die Klimaaanlage hat da wohl etwas nachzuholen, sie ist vehement bemüht und hier und da werden Strickjacken und Pullover herausgekramt. Im Speisewagen ist es noch viel wärmer und es riecht nach Kantinengulasch, am Tresen im SB-Bereich trinken Männer mit Köfferchen neben sich Bier. Die reisen beruflich und machen mit der weiblichen Servicekraft Witzchen, die nicht zünden. “Komm mit mir woanders hin”, singt Sven Regener und ich nehme das Bier mit zum Platz.
Der Zug hält und die Reisenden wachen halb auf, strecken sich, ändern knurrend die Lage und beobachten schläfrig, wie sich die Zugestiegenen auf die letzten freien Plätze verteilen. Der Zug rollt wieder an, Hochhäuser, dann Landschaft, irgendeine Landschaft, man sieht schon gar nicht mehr hin, dann ein Tunnel und die Augen fallen auch wieder zu, das Land ist weg und alles rollt vorbei, wie in meinem Lieblingsgedicht von Heine, das Geld und die Welt und die Zeiten, und Glauben und Lieb und Treu. Die beiden Kleinen schlafen jetzt auch, Kopf an Kopf, während doch Bernard und Bianca auf dem Bildschirm noch in wilder Aktion sind, der Tag war sicher anstrengend.
Der Zugbegleiter geht lächelnd durch den ruhigen Zug und besieht sich die Schlafenden wie ein freundlicher Herbergsvater. Vielleicht mag auch er seinen Job, das kann ja sein, thank you for travelling, das muss ja nicht immer nur als Scherz taugen.”
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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.
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So gemütlich und tröstend und beschaulich erzählt, danke dafür! Das Aufheben(s) hat sich echt gelohnt …