Am Morgen der Gestank der brennenden Mülleimer am Hauptbahnhof. Immer wieder brennen die, weil die Leute da brennende Kippen reinwerfen, und dann qualmt es stundenlang, weil es keinen interessiert, wenn es da kokelt, man kann ja auch nicht für alles zuständig sein. Beißende Rauchfäden im Bahnhof und darum herum, ein selten gemeiner Geruch. Einige Meter neben dem nächsten Mülleimer liegt ein Obdachloser, der sich bepinkelt hat und der, den krümmenden Bewegungen nach zu urteilen, gleich auch noch kotzen wird. Noch einige Meter weiter ein haltloser Mensch, der auf dem Boden sitzt und seinen Kopf nach hinten gegen die Wand haut, immer wieder. Neben dem sitzen noch zwei, die ganz so aussehen, als hätten sie die Nacht da verbracht, die gucken leer und sehen elend aus, haben aber mit dem anderen, so kann man jedenfalls vermuten, keinen weiteren Zusammenhang, die bilden da nur zufällig ein Trio des Unglücks und wissen es gar nicht, die sehen sich auch nicht an, die sehen überhaupt nirgendwo hin, die sehen nur aus. Überall hasten böse blickende Menschen herum, es ist Montag, es ist früh, es ist grau und es sind enorm viele andere da, die alle im Weg herumstehen und Rollkoffer brachial vor fremde Füße zerren und nervtötend langsam Treppen steigen und rudelweise Fahrstühle blockieren und auf Rolltreppen links Poller spielen und unten auf den Gleisen ruppig in die Bahnen drängeln, als käme niemals eine andere mehr, sind wir hier auf der Flucht oder was.
Auf dem Bahnsteig wird irgendwas durchgesagt. Brülllautes Genuschel, da versteht man auf einmal nicht mehr, was über die Kopfhörer aus dem Handy kommt, wenn man das aber im Gegenzug noch lauter macht, bläst es einem erstens die Ohren weg, versteht man zweitens die Durchsage nicht, und die muss man doch verstehen, wenn man sich korrekt aufregen will, weil wieder etwas aus irgendeinem Grund nicht fährt, ausfällt, sich unbestimmt verspätet und die Menge murmelt kollektiv: „Mann, Mann, Mann!“ Da will man ja mitmurmeln, will man doch, und dann rollt man gemeinsam Augen, das ist besser als gar keine Gymnastik.
Aus einem Kiosk riecht es durchdringend nach Zimt und Franzbrötchen und Kaffee, Gemütlichkeit to go, wenn man sich die Kunden aber so ansieht, dann nützt das auch nichts, rein gar nichts nützt das.
Über einen rappelvollen Bahnsteig laufen Menschen mit Warnwesten, die Westen besagen sicher, dass die Träger eine Funktion ausüben, es weiß aber keiner, worum es sich dabei handelt. Sie machen nichts, die Westenträger, sie reden nicht, sie weichen jedem Blickkontakt aus, aber sie sind da und vielleicht ist das ja gut so, man kann auch nicht alles wissen. Der eine Westenträger stemmt die Hände in die Hüften, sieht über die Menge und schüttelt missbilligend den Kopf, aber dafür müsste man nun wirklich keine Weste in Warnfarbe anhaben, um hier alles zu missbilligen, das könnte man auch so, wie ein Profi könnte man das.
Wo sich der Bahnhof zur Stadt hin öffnet, da sieht man halb abgerissene Hochhäuser, wie im Krieg sehen die aus, nein, eher wie nach dem Krieg, Fassaden mit blinden Fenstern, freistehende Wände, daneben die Bagger. Und überall rote Signallichter, kreischende Züge und S-Bahnen.
Wenn man aber hochsieht, dann sieht man im morgengrauen Himmel lichte Möwen, die fliegen in geschmeidiger Eleganz schönste Kurven in den Werktagshimmel und sehen unbändig frei wie immer aus und ab und zu lachen sie laut, grelle Häme aus der Luft. Wobei sie gar nichts zu lachen haben, denke ich mir, denn später essen sie hektisch und gierend verschimmelten Döner aus einem aufgerissenen Abfallsack neben der Methadonausgabestelle, da rettet das weiße Outfit irgendwie auch nichts mehr. Aber diese Kurven da oben – schon schön!
Davon abgesehen war ich den ganzen Tag vollkommen grundlos und geradezu befremdlich gut gelaunt. Ich beobachte mich voller Skepsis, versteht sich. Überall dranbleiben, auch an Merkwürdigkeiten, quasi Chronistenpflicht.
Eben gerade, es ist mittlerweile ein stockdusterer Novemberabend geworden, meldet die Herzdame per Handy, dass ihre Bahn nach Hause nicht fährt, ganz lapidar steht da “Leiche im Gleisbett”. Und augenblicklich geht es einem noch gold.
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Und außerdem bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.
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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank!
Auf dem Rücken eines Warnwestenmannes fand ich ein nie gelesenes Wort und musste wie ein Erstklässer mir Silben und Sinn erschließen: Reisendenlenker.
Hm. Und aus mir unerklärlichen Gründen war ich – ein grundsätzlich gut gelaunter Mensch – gestern den gesamten Tag derart entsetzlich schlecht gelaunt, dass ich am liebsten nur noch weggegangen wäre. Von allem. Ich bin das nicht gewohnt!
Bitte machen Sie das nicht noch einmal. 😉
LG Tonixi
*Natürlich wird es immer Unglückselige geben, aber es ist doch möglich, dass es keine Elenden mehr gibt* sagte Victor Hugo einst, um vor dem französischen Parlament gegen die Sklaverei zu argumentieren. Genau dieses Zitat fiel mir beim Lesen dienes Textes wieder ein. Der Anblick Elender schmerzt jeden Empathie-Fähigen und ich bin froh, dass mir derlei in meinem Biotop meist erspart bleibt…
Kalt qualmende Aschenbecher und Mülleimer, „ein selten gemeiner Geruch“ – Ja! Danke! Darüber sollte mehr gesprochen werden, wie fies dieser Geruch ist. Nicht mal gegammelter Reis kommt dagegen an (dieser Reis, den man noch im Topf ließ, und innen sammelte sich die Feuchtigkeit, und zwei Tage später… Sie wissen schon.)
Lieber Herr Buddenbohm, ich lese sehr gerne Ihre Texte im blog. Sie beschenken mich wenn sie ihre Erfahrungen, Reflexionen, Wahrnehmungen, Sinneseindrücke in poetischer und differenzierter Sprache offenlegen und dabei mein Herz und meinen Geist berühren und mich in jeder Weise inspirieren.
Ich würde gerne etwas in ihren virtuellen Hut werfen aber ich bin altväterisch und kann das nicht.
Können Sie mir Ihre Bankdaten zukommen lassen? Ich würde Ihnen gerne etwas überweisen. Wenn Sie damit einverstanden sind freue ich mich.
Herzlich Christina aus Südtirol
Ich danke sehr, Mail folgt!