Ich will noch eben erzählen, wie es mit Moby Dick ausging. Also nicht mit der Handlung des Buches, ich nehme stark an, das wissen Sie schon, sondern wie es mir mit dem Ende des Hörbuchs erging. Es war nämlich so, dass ich in der Anfangszeit der Coronaphase einmal abends auf dem Sofa lag und mir dachte, jetzt ist es soweit, jetzt hast du definitiv nichts vor, überhaupt nichts, denn die Welt findet ja in absehbarer Zeit nicht mehr statt, jetzt kannst du das große Werk endlich in einem Rutsch bis zum Ende hören, bis der Erzähler da also als einziger Überlebender auf dem Sarg durchs Meer treibt, das ist ja auch eine der Szenen, die man aus dem Film oder auch aus den Filmen kennt.
Ich legte mich also hin und ließ das Hörbuch laufen. Ich war eventuell nervlich etwas stärker beansprucht und allgemein etwas durch, das werden die meisten in den letzten Tagen für sich nicht ganz ausschließen können. Jedenfalls dämmerte ich zwischendurch weg und das Sofa schwankte bald gefährlich, denn es kam Sturm auf und die kreuz und quer über das Deck hastenden Matrosen störten mich erheblich beim Einschlafen; zumal ich nie verstand, was sie mir zuriefen, lauter seemännische Ausdrücke waren das, die mir gar nicht geläufig waren. Es klang aber alles so, als hätte ich dringend mitmachen müssen, als hätte auch ich so wie sie irgendwo ins Tauwerk greifen und ziehen oder pullen müssen, irgendetwas einholen, losmachen, festmachen, vertäuen müssen und dabei brach dann noch ein unfassbarer Regen los, wie er nur in eine Südseesturm möglich ist und das ist übrigens gar nicht so günstig, wenn man nur leicht bekleidet auf einem Sofa auf Deck herumliegt und nicht recht versteht, was eigentlich vor sich geht. Die Herzdame erschien auf dem Achterdeck und wollte etwas, ich konnte sie allerdings nicht verstehen, denn sie rief gegen den Wind, und irgendein Wind war das nicht, das war immerhin ein Taifun. Der Klang von Kirchenglocken wehte darin zu mir und ich fragte mich, wieso die denn bei Sturm läuten, das gab es doch nur früher einmal, auf den Halligen bei Sturmflut oder so, und wieso überhaupt Glocken auf See, hängen die in den Masten oder was – und so ging alles in einem Maße durcheinander, es war eine so unbegreiflich psychedelische Erfahrung, ich bin vermutlich noch nie im Leben so dermaßen gründlich in ein Buch gefallen. Zwischendurch kam es mir auch so vor, als sei es ein kluger und enorm tiefgründiger Gedanke, dass nicht nur der Erzähler, sondern dass auch der Leser die letzte Reise der Pequod überlebt hat und dass man das unbedingt bei allem bedenken und einigermaßen dringend etwas darüber schreiben müsse – das scheint mir bei Licht betrachtet aber keinen Bestand mehr zu haben.
Natürlich weiß ich jetzt nicht genau, wie die letzten Kapitel wirklich abliefen, aber das ist auch egal, ich lass das so stehen, ich weiß ja, wie es ausging. Mehr noch, ich war selbst an Bord, das kann auch nicht jeder behaupten.
Als das Hörbuch vorbei war, rappelte ich mich wieder hoch, es war im Grunde viel zu früh für den Nachtschlaf, selbst für meine seltsamen Verhältnisse. Ich zog mich an und ging noch einmal um den Block, ich ging durch den Bahnhof, wie ich es oft tue. Der Bahnhof war leer, es war der erste Abend, an dem er so leer war, ich könnte also jetzt die Corona-Tage abzählen, welcher davon es gewesen sein müsste, aber es ist auch schon egal. Ich sah über die Bahnsteige, sie sahen aus, als sei es schon tief in der Nacht, dabei war es ein früher Werktagsabend. Tausende hätten da umhereilen müssen, so gut wie niemand war da.
Ich lag gedanklich noch immer bei Melville vor Anker und wage fast nicht, von dem Mann zu erzählen, dem einzigen Mann weit und breit, der mir in der Wandelhalle entgegenkam, und der Ölzeug und einen Südwester trug, obwohl das Wetter nicht danach war, die Szenerie schon gar nicht, das Jahrhundert eigentlich auch nicht. Es wird keine erhellende Erklärung dafür geben. Er gehörte entweder zu einem der benachbarten Theater und lief im Kostüm herum, Zigaretten holen oder so, oder er war zu einer privaten Party unterwegs, die es in diesen Tagen wohl gerade noch gab. Vielleicht war er auch einfach einer der zahllosen Großstadtverrückten oder er war Model und hatte einen Fototermin für irgendwas mit Hamburg und Meer und dergleichen, wir werden es leider nicht erfahren. Er ging einfach nur an mir vorbei, und mit seinen in der leeren Halle gut zu hörenden Schritten verhallte Moby Dick endgültig in mir.
Es war, das wollte ich nur eben sagen, eine einigermaßen spektakuläre Hörbucherfahrung und ich tausche jetzt gerne alle Arten von Drogen endgültig und wild entschlossen gegen die Literatur im Halbschlaf ein. Für meinen Bedarf reicht das so.
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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.
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Der Mann in Ölzeug und Südwester trug einfach nur seine individuelle Schutzkleidung 🙂
Großartig, der Text ist definitiv Literatur!
Oh, das klingt als ob Jasper Fforde doch recht gehabt hat!