Da ich jetzt zu jeder Tageszeit zuhause und außerdem beruflich gerade etwas ausgebremst bin, kann ich mich auch zu jeder Tageszeit ins Bett legen, nichts hält mich mehr davon ab. Ich kann in der Home-School am Vormittag schnell ein paar komplexe Aufgaben verteilen und habe dann erst einmal wieder frei, ich gehe ins Schlafzimmer und lege mich hin. Das mache ich sonst nie, das ist also mal etwas anderes, der Mensch braucht doch Abwechslung. Vor den beiden Dachfenstern im Schlafzimmer hängen weiße Vorhänge, die ein wenig wehen, wenn Luft hereinkommt. Ich sehe mir das gerne an, besonders wenn dahinter blauer Himmel zu vermuten ist und sommerlich durchscheint. Es hat immer etwas von Urlaub oder auch von Filminszenierung, von Szenen in Werbespots, wie der helle Stoff da so sachte bewegt wird und das Licht in den Falten spielt, es beruhigt mich ungemein. Ich stehe noch einmal auf und öffne die Fenster, es ist still da draußen, ganz still. Wenn ich nicht hinaussehe – vor dem Fenster könnte eine Großstadt liegen, die auf eine nie dagewesene Art zur Ruhe gekommen ist, oder aber die gottverlassenen Außenbezirke einer uninteressanten Kreisstadt oder auch der erste öde Maisacker hinter einem beliebigen Dorf in der tiefsten Provinz, die Unterschiede sind als Ohrenzeuge nicht zu ermitteln. Ich lege mich wieder hin und höre konzentriert auf die Geräusche von draußen, es ist wirklich gar nichts zu hören, aber um mich herum sind mehr als eine Million Menschen, ich weiß das. Eine Möwe schreit schließlich, ich könnte auch am Meer sein, und gleich kommen mir die weißen Vorhänge mit ihren leichten Wellen noch etwas romantischer vor und ich könnte mich jetzt unklaren Urlaubserinnerungen hingeben, wenn ich das nur wollte, irgendwas mit Strand im Süden und sehr weitem Himmel und einer geöffneten Balkontür im Hotel zur trägen Mittagszeit vielleicht, solche Erinnerungen, wie sie wohl fast jeder parat hat, der schon einmal pauschal gereist ist.
Was in der Wohnung passiert, das ist fast durchgehend lauter als das Draußen, und selbst dann ist es lauter, wenn die Herzdame im Nebenraum nur eben etwas in ihr Notebook tippt oder wenn Sohn I am improvisierten Schreibtisch gedankenverloren und mit höchstens halber Stimme einen Song seiner Playlist mitsummt, während er Matheaufgaben macht. Nach einer Weile höre ich von der Straße her immerhin Schritte in Richtung Alster – dann aber wieder lange nichts. Und diese Schritte sind nicht besonders schnell und auch nicht besonders langsam, sie sind nicht schwer und nicht leicht, es sind einfach nur irgendwelche Schritte, sie geben nichts her, die Gedanken bleiben daran nicht hängen und sie gehen auch nicht mit ihnen mit. Irgendwann, nach mir endlos vorkommenden Minuten, fährt ein Auto vorbei und bremst in der Kurve vor dem Haus etwas ab. Dann wieder nichts. Viel länger kann ich dem nicht mehr zuhören, ich schlafe unweigerlich ein bei dieser Übung und das macht nichts.
Vor elf Jahren, vor zehn, vor neun Jahren und auch noch vor acht Jahren lag ich abends oft mit den kleinen Söhnen in diesem Schlafzimmer und habe darauf gewartet, dass sie endlich, endlich einschliefen. Sie lagen neben mir oder in meinem Arm, vielleicht lagen sie sogar links und rechts in meinen Armen, das kam manchmal vor, und sie dämmerten mit etwas Glück nach einer Weile allmählich in ihre Kinderträume, aber ich hatte nicht oft Glück dabei. Ich lag und atmete so ruhig, wie ich nur konnte. Ich versuchte, die Ruhe selbst zu sein, der Fels und die Sicherheit, der Vater schlechthin, das Alleswirdgut in Person. Ich bemühte mich, in dieser Einschlafzeit überhaupt nichts anderes mehr zu wollen und schon gar nichts anderes zu machen. Ich war in beiden Aufgaben nie wirklich gut, fürchte ich, ich war vielleicht nicht einmal befriedigend und ich bin im Laufe der Jahre darin auch nicht besser geworden. Ich habe aber wenigstens interessiert teilgenommen, so könnte man es im Zeugnis vermerken und ein weiteres Urteil dazu dann dezent vermeiden. Ich bemühte mich damals auch, diese Momente intensiv und ausschließlich als Glück zu erleben und dabei immerhin, dabei haben die Söhne mich vielleicht doch etwas vorangebracht.
Mein Handy war in diesen Stunden natürlich leise gestellt, das Notebook war nicht in Griffweite. Die Herzdame machte im Nebenraum kaum einen Laut. So wie auch ich nur auf Zehenspitzen durch die Wohnung schlich, wenn sie an der Reihe war und die Kinder in den Schlaf begleitete, wir wechselten uns ab, so gut es nur ging.
Da lag ich also, und oft schrie dann draußen jemand herum. Man macht sich keinen Begriff, wie oft da draußen jemand herumschrie, aus Leibeskräften schrie, und so laut schrie, dass die Söhne, die beide nicht so leicht einschliefen, wieder wach wurden oder gar nicht erst die Augen zu machten. Das entsprach nun ganz und gar nicht meinen Erwartungen an diese Zeit mit Kleinkindern. Ich hatte immer angenommen, die Kinder würden abends unruhig etwas herumschreien und ich würde sie dann als Vater sachte wiegend, gütig brummend und natürlich erfolgreich wie im Bilderbuch beruhigen, ich hatte da so ein beglückendes Bild im Kopf. Noch bevor wir überhaupt Kinder hatten, lange davor, war dieses Bild schon da. Ich dachte, ich würde mich abends um die Bauchschmerzen der schreienden Kinder kümmern, um ihre Wachstumsschmerzen und um die durchbrechenden Zähne, um die Monster unterm Bett und auch um die im Schrank oder hinterm Vorhang. Aber so war es dann nicht, sondern die Erwachsenen schrien draußen herum, und wie sie das taten. Und die Söhne sahen mich im Halbdunkel mit großen Augen an und schliefen nicht.
Unsere Wohnung liegt zwischen der Außenalster und dem Hauptbahnhof. Ortskundige Menschen gehen, laufen oder torkeln dort abends und nachts hin und her, besonders natürlich im Sommer. Die einen wollen nach Hause, die anderen wollen noch grillen oder sonst etwas in der freien, aber doch stets drangvoll gut besuchten Natur am ach so berühmten Ufer machen. Unsere Wohnung liegt in einer eigentlich ruhigen Nebenstraße, in der aber seltsam viele erwachsene Menschen in der Dämmerung oder in der Dunkelheit herumschreien. Aus ganz verschiedenen Gründen machen sie das, die man aber oft aus dem herausdeuten kann, was da gebrüllt wird, und selbst dann kann man das, wenn man eher wenig davon versteht oder der gebrüllten Sprache nicht einmal kundig ist. Das Präsens ist hier eigentlich falsch, fällt mir beim Schreiben auf, aber noch klingt es auch falsch, wenn ich das alles in die Vergangenheitsform setze.
Ich hatte im Laufe der Jahre jedenfalls genug Gelegenheit und auch Muße, mich damit zu befassen, denn die Söhne brauchten lange, um zu ihren Träumen zu finden und hatten über Jahre einen nur leichten Schlaf. Ich lag da also und hörte, was auf der Straße vor sich ging und ich verfluchte alle Menschen, die sich dort unten nicht im Griff hatten. Ich hatte oft Lust, Wassereimer oder Schlimmeres aus dem Dachfenster nach draußen zu kippen, ich habe es natürlich nie gemacht. Und ich will auch nicht übertreiben, es gab selbstverständlich auch Abende, da waren die Menschen auf der Straße nicht ganz so schlimm.
An diesen Abenden hörte ich, hörten wir dann die anderen Geräusche umso besser, etwa die vom Feuerwerk. Es gab früher erstaunlich oft Feuerwerk in dieser Stadt, zu gewissen Zeiten etwa jeden Freitagabend, und kleine Kinder, die von buntflackerndem Feuerwerksgeknalle vor dunklem Nachthimmel wach werden, sie schlafen so schnell nicht wieder ein. Ich habe heute noch, viele Jahre später, eine tiefe Abneigung gegen Böller und Raketen, die hat sich in dieser Zeit entwickelt. Und es gab selbstverständlich auch Autos, die vor dem Haus stark beschleunigt oder abrupt abgebremst wurden, es gab Fahrradklingeln und bellende Hunde und Polizeisirenen, es gab Rollkoffer, klackernde Absätze und zerklirrende Flaschen und all das. Wie es in der Mitte einer Großstadt eben ist oder war, ich will mich nicht beschweren, ich berichte nur.
Nein, dass stimmt nicht. Ich will mich schon beschweren, aber ich bin mir der Sinnlosigkeit und Ignoranz dieser Haltung dabei bewusst. Ich wohne ja nicht aus Versehen in der Mitte der Stadt.
Jetzt jedenfalls höre ich überhaupt nichts mehr. Die Stadt verharrt in der vielleicht größten Stille ihrer Geschichte, in einer Stille, die man kaum genießen kann, auch wenn man sich noch so sehr nach ihr gesehnt hat. Zu unheimlich ist das Ausbleiben der Geräusche und all der anderen Menschen, es ist schwer, das so hinzunehmen. Es ist eine lastende Stille der Unfreiwilligkeit, sie fühlt sich nicht gut an.
Zumindest in den nächsten beiden Wochen habe ich viel Zeit, das ist ein ungewohnter Zustand für mich. Ich will versuchen, diese nächtlichen Schreie erwachsener Menschen zu katalogisieren und durchzudeklinieren, was soll man als schreibender Mensch mit seinen Erinnerungen an lautere Zeiten auch sonst anfangen, man lässt sie ja doch nicht einfach ungenutzt verblassen. Auch wenn ich nur auf fünf, sechs Einträge kommen werde, aber in Zeiten, in denen man sich nicht mehr um den Kalender kümmert, ist auch der Begriff Katalog nicht mehr ganz so ernst zu nehmen.
Beginnen wir einfach mit dem Schreien der Verrückten, denn verrückt sind viele in der großen Stadt. Verrückt wird man ja leicht, in jeder großen Stadt.
(Fortsetzung folgt)
***
Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.
***
Sie können hier Geld für in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber ganz klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Merci!
Was für ein Text! Danke. Er hat mich getroffen.
Sehr gerührt bin ich von Ihrer Beschreibung der „Alleswirdgut in Person“.
Genau diese Art Vertrauen haben meine Eltern mir, der nun im 75. Lebensjahr stehenden Alten, die nicht von Kummer und Sorgen verschont geblieben ist, als unerschütterliche Lebensgrundlage vermittelt. Dafür werde ich ewig dankbar sein.
Das habe ich, hoffentlich, auch meinen Kindern mitgeben können. Und diese wiederum den ihren.
Wie Sie, Herr Buddenbohm!
Das ist, was zählt.
Jo, so empfinde ich das auch, Frau Trulla. Erstaunlich war für mich die Erfahrung, dass „die Kinder“ diese Liebe und Fürsorge ja als selbstverständlich hinnehmen, so lange sie klein sind, und nicht besonders dankbar dafür sind, weil sie es ja nicht anders kennen. Das verleitet manchen Erwachsenen dazu, zu behaupten, Kinder seien grundsätzlich unersättlich. Aber so ist es nicht, Geben trägt Früchte.
Umso schöner ist dann, wenn nach 30 Jahren einmal so eine Aussage kommt wie: „Ihr wart so gute Eltern, die sich immer um mich gekümmert haben, so dass ich mir nie wirklich Sorgen machen musste. Jetzt bist Du mal dran! Sag mir was Du brauchst.“
Ein wunderbarer Text mit den Gedanken eines liebenden Vaters und mit Bildern, die für den Leser sichbar werden.
Ihnen und ihrer Familie ein schönes Osterfest.
Lieber Herr Buddenbohm,
ich selber sitze dieser Tage ebenso vor der von Ihnen so schillernd beschriebenen Stille und staune. Darüber, dass Stille selbst in einem 2000 Seelen- Dorf wie unserem zu einem so seltenen Gut geworden ist. Darüber, dass es einer so dramatischen (aber im Vergleich zum sonstigen Weltgeschehen wiederum harmlosen) Krise bedarf, um „den Menschen“ zum (Um-)Denken anzuregen. Ich denke darüber nach, wie oft wir noch Gelegenheit haben werden, einen so menschenspurenlos blauen Himmel zu betrachten, darüber wie schnell es nach der Krise wohl gehen wird, bis unser menschliches Gebrüll wieder die Vogelstimmen, den Wind in den Büschen und das feine Gegacker meiner Hühner übertönen wird. Wie schnell unser sonst gewohnter innerer Lärm wieder alle Bewusstwerdung unterdrücken wird. Wie lange wird diese jetzt begonnene und gewonnene Bewusstheit der Menschen anhalten? Werden wir irgendetwas aus dieser Zeit mit hinübernehmen oder wird es weitergehen, als ob jemand nur die „Pausetaste“ gedrückt gehabt hätte? Darf gehofft werden, „der Mensch“ könnte klüger und besonnener hervorgehen aus dieser Zeit? Oder wird danach das große Rennen starten, wer als erster wieder den alten Status erreicht oder übertroffen hat?
Den Lauf der Geschichte betrachtend bleiben zumindest Zweifel.
Und darum: ja, es ist eine erzwungene Stille, ein erzwungener Stillstand; dennoch sollten wir dankbar dafür sein – wer weiß, ob wir je wieder so viel Stille, Klarheit, pures da-Sein, jetzt-Sein, so-Sein, nur-Sein erleben werden können.
Ach, und: Ihre Beschreibung von den wehenden Vorhängen hat in der Tat etwas sehr Urlaubhaftes…..mmmhhmmmm.
Haben Sie es gut! Trotzdem. Deswegen.
Nächtliche Grüße aus einem sehr stillen Dorf in Österreich.
Barbara Kreuzberger