Alles ist bestens

Die Medien berichten also übereinstimmend, dass es gestern in Hamburg keinen Ansturm auf die Geschäfte gab und lange Schlangen ausblieben. Das entspricht vermutlich auch der Darstellung des Einzelhandelsverbandes, der an dieser Wortwahl natürlich ein Interesse hat, das verständlich ist.

Ich war gestern am Nachmittag kurz in der Innenstadt, da war es eher voll und ich hätte Bilder von dann doch ziemlich langen Schlangen vor gewissen Geschäften schießen können, von Schlangen auch, in denen der Mindestabstand eher nicht so häufig vorkam. So ein Bild heute auf einer Titelseite und die halbe Stadt hätte einen anderen Eindruck des ersten Öffnungstages.

Was ist nun richtig? Mein Bild beruht auf etwa zwanzig Minuten in zwei Straßen. Zwei Straßen weiter hätte ich vielleicht etwas anderes geschrieben, eine Stunde früher oder später auch, vielleicht sogar schon zehn Minuten später. Überall machen Menschen gerade Aussagen, wie es da draußen jetzt ist, wie es in dieser oder jener Stadt ist, Ausschnitt neben Ausschnitt neben Ausschnitt, beweisen tut das alles gar nichts oder wenig. 

Ich könnte aus meinen Einkaufserlebnissen in den letzten Tagen ableiten, dass die Menschen gelernt haben und sich eher rücksichtsvoll benehmen, für das Gegenteil hätte ich aber auch genug Material und was jetzt überwiegt – ich habe natürlich nicht mitgezählt. Normalerweise zählt kein Mensch mit.

Ich finde diese allgemeinen Aussagen darüber, was jetzt gerade ist, enorm schwierig, aber ich komme auch aus einem beruflichen Umfeld, in dem man normalerweise nichts behauptet, was man nicht mit Daten belegen kann. Die Datenlage zu “es ist voll” und zu “die Menschen nehmen Rücksicht” ist aber eher dünn, so dünn wie unser Wissen darüber, was ist. 

Jetzt war ich gerade bei Edeka. Da war es ziemlich leer und alle gingen sich aus dem Weg und die meisten trugen Mundschutz. Das gilt mir jetzt bis zum nächsten Einkauf als Wirklichkeit, solange immerhin ist alles bestens. Geht doch! Wenn es mir damit langweilig wird, gehe ich etwas weiter zum Penny und lasse mich da von den verlässlich besoffenen Stammgästen (Bahnhofsnähe) aus der Warteschlange an der Kasse rempeln. Sie soll ja auch unterhaltsam bleiben, die Wirklichkeit.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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4 Kommentare

  1. So ist das wohl mit der absoluten Wahrheit- es gibt sie nicht. Jedenfalls nicht in menschlich erfassbarem Ausmaß.

  2. Ich wohne in Frankfurt mit einer beliebten Einlaufstraße um die Ecke. Gestern war da doppelt so viel los wie in den Wochen zuvor – noch nicht so voll wie „vorher“ (wann war das nochmal genau?) – aber doch deutlich belebter.

  3. Man darf die Wirkung der Bilder auch nicht unterschätzen. Vielleicht nehmen die Medien damit sogar ein bisschen Verantwortung wahr. Ich kann mich jedenfalls noch sehr gut an den Tag erinnern, an dem mehr oder weniger zeitgleich in der Schweiz und in Deutschland Bilder aus Innenstädten gezeigt wurden, ziemlich ganz zu Anfang der Massnahmen. Die Schweizer Tagesschau zeigte einen leeren Paradeplatz in Zürich, eine leere Strasse vor dem Zytgloggenturm in Bern und einen leeren Bahnhofsplatz in Luzern. In der deutschen Tagesschau konnte man sehen: Dicht bevölkerte Parks, Schlangen in den Läden und dicht besetzte Biergärten. Auf mich, und ich vermute, ich bin da nicht die Ausnahme wirkte das damals noch ungefähr so: Wenn ich über den Paradeplatz laufe, falle ich unangenehm auf, weil ich eine der wenigen bin, die sich nicht an das Zu-Hause-Bleiben-Gebot halte. Und im Gegenteil: warum soll ich nicht auch in den Biergarten gehen, die anderen können das ja auch? Ziemlich ins Unreine gedacht.
    Und beim Schreiben merke ich, dass die Wirkung der Bilder sich innerhalb der vergangenen Wochen umgekehrt haben. In den vollen Biergarten würde ich kaum mehr wollen, aber der leere Paradeplatz bietet genügend Platz für Social Distancing. Also streichen wir das mit der Verantwortung der Medien? Es bleibt kompliziert, um sie zu zitieren.

  4. Was sich wieder wie gewöhnt anfühlt. Nach zwei Wochen des Luftanhaltens sind die ganzen Behauptungs- und Rechtshabensdiskurse, die Welterklärer, Weltverbesserer, Moralisten und Antimoralisten wieder in voller Fahrt. Keine Fragen mehr. Fast nur noch Antworten. Ich würde behaupten, unsere Beobachtungen sind verzerrt, weil ein weitaus höherer Anteil des öffentlichen Lebens „draußen“ außerhalb geschlossener Räumen stattfindet als normalerweise. Ich würde auch behaupten, überraschend große Teile der Menschheit haben überraschend große Probleme im Zahlenraum über zwei. Ob es zuviel oder zuwenig ist? Die Exponentialkurven werden es zeigen. (Aus der Erdhöhle gesendet)

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