Es sind die Kleinigkeiten

Es sind die Kleinigkeiten. Gestern oder vorgestern blieb ich abends an einer Kreuzung stehen, weil von rechts und links ziemlich viele Autos kamen, da fiel mir auf, dass ich da zum ersten Mal seit Mitte März stand. In all den Wochen vorher konnte ich auf meinen Spaziergängen durchs Revier einfach ohne Halt quer über diese Kreuzung gehen, denn es gab keine, wenig oder höchstens überschaubar viele Autos und die Ampeln waren nur Deko. Aber jetzt wieder: Volles Programm. Alles braust irgendwohin.

Ich habe noch eine kryptische Notiz aus dem letzten Jahr, es ist gerade eine meiner ältesten Notizen, die drösel ich an dieser Stelle einmal auf. “Rechts, links, Kreuzung” steht da, was in etwa so geistreich klingt, als würde ich mir abends im Bett noch einmal elementare Verkehrsregeln für Kindergartenkinder notieren, es ist fast ein wenig peinlich. Es ist eine handschriftliche Notiz, etwas ungelenk geschrieben, in seltsamer Haltung und im Stehen. Ich kann im Stehen nicht gut schreiben. Ich denke, wenn ich solche Notizen später leser, immer, wenn du jetzt plötzlich stirbst, und die Leute lesen dein Notizbuch, die halten dich doch für bekloppt. Aber dann komme ich darauf, denn ich bin ja gar nicht bekloppt, also nicht so zumindest, dass mir das dann auch egal sein kann, weil tot, und dann geht es wieder.

Ich kann im Stehen nicht gut schreiben, nicht einmal ich kann das gut lesen. Es gibt so viele alte Schwarzweißbilder von Presseleuten, die sich im Stehen Notizen machen, ob die alle das Problem hatten? Manchmal diktiere ich mir daher lieber schnell eine Notiz ins Handy, also wenn nicht allzu viele Menschen mithören können jedenfalls. Das geht auch, dabei gibt es aber das Risiko, dass die Notizbuchfunktion des Handys die vermeintlich kostbaren Gedanken per Rechtschreibkorrektur so dermaßen grausam verunstaltet, dass sie wertlos werden. So habe ich eine gespeicherte Notiz, die lautet schlicht “Corwin von Amberg”. Es ist mir ein völliges Rätsel, was ich ursprünglich gemeint haben könnte, ich komme durch Drehen und Tauschen der Buchstaben nicht mehr darauf. Und es gibt keinen Corwin von Amberg, den Namen hat sich das Handy ganz alleine ausgedacht. Allerdings klingt der Name vollkommen plausibel und sollte ich jemals wieder Geschichten schreiben und der Namen darin vorkommen, jetzt wissen Sie also schon einmal Bescheid. Denn wenn man schreibt und so etwas passiert einem, dass ein solcher Name aus dem Nichts irgendwie auftaucht, dann hört man dabei im Kopf ein seltsames: “Lass mich vorkommen!” Wobei ich gerade, haben Sie es gemerkt, ein wenig getrickst habe, denn jetzt kam er ja vor. Was bin ich heute wieder für ein Fuchs! Zack, Notiz gelöscht.

Die Kreuzungsnotiz also. Die bezieht sich auf einen Abend vor einem Jahr, vielleicht auch vor zwei oder drei Jahren, ich bin leider unfassbar schlecht darin, die Vergangenheit zeitlich korrekt einzuordnen. Früher eben. Ein Abend irgendwann. Ein Sommerabend jedenfalls, großstadtwarm und schlecht gelüftet, so ein Abend, an dem damals die Menschen in den Szenevierteln noch lange vor den Kneipen und Cafés saßen und alles herrlich fanden, warum auch immer. Ich stand an einer Kreuzung, es war eine sehr große Kreuzung. Ausfall-oder Einfallstraße, wichtige Straße, Hauptverkehrsader, so etwas. Ich wartete auf Grün, denn das war so eine Kreuzung, da gehen nur Lebensmüde bei Rot. So gut wie alle Autos sind zu schnell, haben noch oder schon diesen Autobahnmodus und gebremst wird da nicht gern. Ich wartete auf Grün und sah nach rechts und nach links, wo soll man an Kreuzungen auch hinsehen. Es wurde Rot für die Autos. Rechts hielt ein Autofahrer, der zur Autobahn wollte, also mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls. Der saß nicht entspannt, der saß eher ins Lenkrad verkrallt und sah wütend aus. Verbissen starrte der nach vorne, der wollte weiter und weg, raus aus der Stadt oder jedenfalls irgendwohin und die Ampel machte ihn fertig, das sah man, der fluchte und schimpfte und behielt den Fuß auf dem Gas und sah getrieben aus wie nur je einer, und aus meiner Sicht wollte der nach links. Der wollte also dahin, wo auch ein Auto stand, in dem, es gibt ja so Zufälle, ein Typ saß, der dem anderen völlig entsprach. In Körperhaltung, Gesichtsausdruck, in Eile und Drängelei und Hektik und allem, und aus meiner Sicht wollte der rein in die Stadt und also nach rechts. Für einen kurzen Moment kam mir das völlig absurd vor, wie die beiden da ihre Lenkräder umklammerten und weiter wollten, einer nach links und einer nach rechts, als ob davon irgendwas besser werden würde. Als ob es das wirklich bringen könnte, irgendwohin zu fahren, es spricht ja doch alle Erfahrung dagegen. Und fast wollte ich mich schon total geistreich finden, wie ich da stand und die Eitelkeit allen menschlichen Strebens so überaus klar erkannte, bis mir einfiel, dass ich da zwar einfach nur stand, bei mir aber überhaupt nichts besser war. Keine Spur von Glück oder Ruhe, Entspannung oder Seelenfrieden, ich wollte da im Grunde auch nur auf die andere Seite, hatte aber nicht einmal einen Plan, warum überhaupt und wohin dann weiter, ich ging da nur durch die Gegend und geistreich geht ja nun anders. Das war es. Drei Menschen, eine Sekunde, aber mir kam das wichtig vor, ich blieb auf der anderen Seite stehen und schrieb mir eine Notiz. 

Und wenn ich einmal in ein Kloster gehen sollte, was ich gewiss niemals tun werde, dann wegen solcher Momente.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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4 Kommentare

  1. Kurze Notizen mache ich mir als Sprachnachricht in meine WhatsApp-Gruppe mit mir selbst als einzigem Mitglied. Ich kann nämlich auch unterwegs nicht gut lesen und ganz ohne Verschriftlichtlichung funkt auch keine Autokorrektur dazwischen.

    Nur so’n technischer Tipp von mir. Obwohl der sich angesichts eines spontan entstandenen „Corvin von Amberg“ wie ein Sakrileg ausnimmt, der Tipp …

  2. Corvin von Amberg kann eigentlich nur Besitzer von Schloss Neidstein im Kreis Amberg-Sulzbach gewesen sein. Schrecklicher Kerl. ( gesendet aus Weiden in der Oberpfalz, schon immer in Fehde mit Amberg verbunden)

  3. Viel faszinierender finde ich ja, dass aus der schmalen Notiz dann nach so langer Zeit wieder eine solche dichte und philosophische Szene auftauchen kann.
    Ich persönlich frage mich ja schon länger wie der Bandbus auf meine Einkaufslisten-App gekommen ist. Immerhin komme ich nicht so leicht in Versuchung mal eben einen solchen zu kaufen.

  4. Sollte ich eines Tages mit dem Gekritzel in meinem Notizbuch partout nichts mehr anfangen können, und ich sehe diesen Tag schon frech am Horizont frech sein freches Haupt erheben, sende ich es kommentarlos bei Buddenbohm ein. Ich mein nur schon mal.

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