Ich gehe am Sonnabend durch die Stadt. Der Tag ist ungeheuer grau, da bricht heute nichts Farbiges durch und Hamburg verbleibt komplett ereignislos und wartet erst einmal ab. Das ist noch kein richtiger Werktag, das ist bestenfalls ein halber. Es geht alles noch nicht richtig los, gehen Sie nicht über Start. Das Jahr drückt sich am Anfang des Kalenders herum und zögert. Die wenigen Menschen, die durch die Stadt gehen, Pärchen zumeist, sie gehen entschlossen spazieren, sie bummeln nicht. Es werden keine Schaufenster begutachtet, wozu auch, man kann eh nichts kaufen. Man geht eher stramm durch, heute wollen wir Strecke machen, wir gehen mal etwas weiter, Hauptbahnhof bis Dammtor, Jungfernstieg bis Stadthausbrücke und dann runter zum Hafen, solche Wege werden gewählt. Komm, wir gehen mal durch die Stadt. Einige Läden in den Fußgängerzonen haben jetzt an den Eingangstüren Schalter eingerichtet, da kann man etwas bestellen und jemand holt es dann aus den Tiefen des Geschäftes und reicht es den Kunden durch die Tür. Viel Zulauf haben diese Schalter nicht, das Verkaufspersonal sitzt da, sieht auf die leere Straße und wartet. Aber die Schalter sind auch noch neu und ungewohnt. Da guckt man erst einmal, da geht man erst einmal vorbei und dreht sich nicht einmal um, lass mal weiter. Kann man ja auch nicht ahnen, dass da jetzt so Schalter sind, darauf war man wieder nicht vorbereitet und hat keine Wünsche dabei.
Die Bettler mit den Bechern vor sich, die bekommen heute kaum etwas. Es gehen nicht genug Menschen durch die Stadt, das kann so nichts werden. Und kein Straßenmusikant spielt nirgendwo, nur der übliche Prediger missioniert am Jungfernstieg lauthals ins Leere und ruft den vorbeifahrenden Bussen etwas über die Sünde zu. Reinigendes Feuer! Das wird helfen, sagt er. Neben ihm verteilt jemand Prospekte mit Jesus darauf, die will keiner haben.
Drei Polizisten schlendern sehr aufrechten Ganges die Straße entlang und gucken gelangweilt, die Entgegenkommenden rücken die Masken zurecht oder zupfen sie hoch. Ich gehe durch eine der Passagen. Ein Mann im fortgeschrittenen Rentenalter und in der Uniform eines Sicherheitsdienstes geht in Gedanken versunken, die Hände auf dem Rücken, langsam durch die Gänge. Sonst ist da niemand. Er nickt mir zu.
Über der Binnenalster kreisen die Möwen, um die Binnenalster kreisen die Spaziergänger, auf der Binnenalster kreist ein Kanufahrer, der paddelt energisch und kraftvoll und sehr alleine rundherum, ein paar Blesshühner sehen ihm nach. Und alles kreist und kurvt durch das lastende Grau. Man muss am Ufer einen Moment still stehenbleiben, um diese weit ausholenden Bewegungen zu sehen. Nur die schweren Wolken oben ziehen quer durchs Bild und über die Kreise und den Stadtplan hinweg von Ost nach West. Im Wetterbericht stehen mehrere Schneesymbole, und diese Wolken heute, aus denen gelegentlich ein paar harmlose Tropfen fallen, gegen die niemand auch nur einen Schirm aufspannt, die sind nur die Vorhut. Da kommt noch was. Das gilt auch für das Jahr.
Ein Mann geht an mir vorbei, während ich am Geländer stehe und über die Wasserfläche der Binnenalster sehe. Er spricht ein lautes Französisch, das nach arabischer Herkunft klingt, in sein Handy. Er spricht schnell, von seinem Französisch verstehe ich kein Wort. Aber zwischendurch benutzt er eine deutsche Wendung, mehrmals kommt die vor, routiniert wird sie eingestreut: „Alles Scheiße.“ Es fügt sich hervorragend in seinen Redeschwall ein und es klingt nicht so, als sei er wütend deswegen. Es klingt mehr so, als sei es nun einmal so, eine beiläufige Feststellung. Alles Scheiße, mais oui.
Ein Spaziergangspärchen geht an mir vorbei. Sie schiebt einen Kinderwagen und sagt zum Mann: „Wenn du dich scheiden lassen willst, dann lassen wir uns eben scheiden. Meine Güte.“ Er sagt: „Ja, nein.“ Das Kind im Wagen schläft und wird erst später wach. Das Jahr auch.
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Genau so. In Hamburg und vermutlich sonst auch. Wie wunderbar Sie mein Empfinden aufgeschrieben haben, Herr Buddenbohm. Vielen Dank!