Eine Dankespostkarte

Rückseite

Ich habe zu danken für die freundliche Zusendung eines Portemonnaies mit Mangaaufdruck, begierig in Besitz genommen von Sohn II, er lässt grüßen und findet LeserInnen super. Ferner gab es ein Buch für die Herzdame, nämlich die Mittagsstunde von Dörte Hansen. Den Roman kenne ich bereits, ich fand ihn großartig. Vielen Dank!

Vorderseite

Es ist nun leider so, es gibt eindeutigen Motivmangel. Ich sehe nichts mehr, die Aufmerksamkeit lässt nach, es sieht alles gleich aus, es hebt sich nichts mehr ab. Ich müsste viel weitere Kreise ziehen, um wieder etwas wahrzunehmen, aber ich komme hier ja nicht raus. Ich gehe unzufrieden durch die immer gleichen Straßen zum Einkaufen in die immer gleichen Läden, es sieht alles aus wie gestern und vorgestern, wie letzte Woche und wie im Monat davor. Die Schaufenster werden nicht mehr umdekoriert, wozu auch. Mir kommen jeden Tag die gleichen Leute wieder entgegen. Vielleicht sind es auch andere, vermutlich sogar sind es andere, aber ich merke nichts mehr. Ich sehe mich um, ich sehe nichts oder zu wenig. Ich muss mich konzentrieren, ich bleibe stehen und gucke gründlich.

Am Straßenrand eine Obdachlose, vor ihr der obligatorische Becher mit wenigen Münzen darin. Ein junger Mann bleibt neben ihr stehen und das Folgende kann ich Ihnen als unspektakuläre Postkarte nur anbieten, wenn Sie sich das Bild bitte mal eben comicartig vorstellen möchten. Es enthält zwei Sprechblasen, denn ohne Dialog klappt das nicht, es geht überhaupt nur um den Dialog. Eine Obdachlose also am Straßenrand, haben Sie die? Dazu noch ein junger Mann, vor ihr stehend, mehr Bild brauchen Sie gar nicht, Ihre Vorstellungskraft wird hier nicht großartig herausgefordert, möchte ich meinen. Der junge Mann sagt, jetzt bitte die erste Sprechblase: „Möchten Sie vielleicht etwas essen oder trinken, darf ich Ihnen etwas bringen?“ Genau so sagt er das, denken Sie sich ruhig ein Blümchen in die Sprechblase und eine ausgesprochen freundlich wirkende Schrifttype. Es ist ausgesucht höflich, wie er da formuliert, mit diesem herrlich oberkellnerhaften Dürfen im Satz, das hört man nicht mehr so oft. Darf ich ihnen etwas bringen? Das haben wir alle lange nicht mehr gehört, diese obdachlose Frau aber vermutlich noch viel länger nicht. Und sie guckt überrascht, lächelt dann erfreut und sagt in perfekt passender Tonart, jetzt bitte Sprechblase Nummer zwei: „Gerne, ein heißes Getränk wäre jetzt angenehm.“ Mehr nicht. Aber das war schon schön, das nehmen wir so.

Wobei ich hier noch einen kleinen Exkurs dranhängen möchte, am Beispiel des Comics, den Sie jetzt vielleicht tatsächlich im Kopf hatten. Da hatten Sie also diese Obdachlose und den jungen Mann, etwas Straße vielleicht, irgendwie Großstadt eben. Autos, eine Ampel, etwas in der Art, und diese zwei Sprechblasen. Den Becher, die wenigen Münzen, kurze Großaufnahme. Spannend könnte man jetzt finden, wie die beiden sprechenden Personen aussahen, denn das schreibe ich so gut wie nie. In diesem Fall kam nur „jung“ als nähere Beschreibung des Mannes vor. Wie sieht der Mann also aus? Es ist nämlich so, ich lebe hier in der Mitte der Großstadt. Der Mann sah vielleicht nicht so aus, wie Sie ihn sich gedacht haben. Er war vielleicht erheblich dunkelhäutiger, um nur eine Möglichkeit zu benennen, es gibt noch viele, viele andere. Ändert das etwas am Bild? Ich denke schon lange darauf herum, ich habe noch keine verbindliche Antwort für mich gefunden, was beim Erzählen richtig ist. Also nicht im Sinne von „korrekt“, obwohl das auch interessant ist, sondern im Sinne des nach meinem Gefühl richtig erzählten Bildes und der Assoziationen, die dann daran hängen. Es ist wirklich enorm kompliziert. Ich nehme an – aber das ist wirklich nur ein Gedanke – wenn Sie aus einer Gegend kommen, in der es kaum Menschen aus anderen Teilen der Welt gibt, wie es etwa im Heimatdorf der Herzdame der Fall ist, dann stellen Sie sich die Leute in meinen Szenen vielleicht nicht ganz passend vor. Könnte sein. Aber macht das denn etwas aus? Das ist nicht leicht zu beantworten. Da mal drüber nachdenken, wie der olle Kempowski gesagt hätte. Wenn ich all diese Menschen nämlich andererseits näher beschreiben würde, Sie würden sich manches vielleicht erst recht falsch vorstellen, in welcher Richtung auch immer. Das könnte auch sein, es ist nicht einmal unwahrscheinlich. Assoziationen sind ein wahres Teufelszeug, wenn es um Menschen geht.

Na, aber das nur am Rande. Ich verbleibe einigermaßen unentschlossen und beschreibe Ihnen weiter quasi Ausmalmenschen. Es kann sein, dass ich das richtig finde. Vermutlich ist es so.

***

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5 Kommentare

  1. Vielen Dank für diese dankespostkarten. Es tut so gut Bilder aus dem Hamburger leben geschildert zu bekommen und zumindest gedanklich was anderes zu sehen als das schwäbische Dorf. Welches ich liebe aber naja nach einem Jahr fast nur daheim, Sie wissen schon.

    Heute habe ich meine Söhne freundlich rausgeschmissen mit der Bitte das sie sich draußen ausführliche bewegen und der Aufforderung mir wenn sie wieder da sind eine Geschichte zu erzählen. Dank Ihnen hat ich die Idee dafür. Mein jüngster hat’s geschafft mir eine gute Kurzgeschichte aus unserem Dorf zu erzählen. 🙂

  2. Die Frage ist in der Tat sehr interessant. Ich wäre eher Befürworterin, die Personen deutlicher zu beschreiben um so über die Dauer mit den in uns vorhandenen „-ismen“ zu brechen. Wenn in allen möglichen Situationen Frauen, Transgender, Menschen der LGBTQ-community, BIPoC, Personen mit Behinderung oder Menschen verschiedenen Alters usw. selbstverständlich vorkommen, wird auch die Vorstellung der heteronormativen weißen Cis-Gesellschaft langsam aber sicher vielfätiger. Ich finde, das wäre ein großartiger Beitrag und die anfängliche Verwunderung Mancher durchaus wert.

  3. Solange ich allerdings nicht fiktiv erzähle und daher alles weiß, solange ich im realen Raum verbleibe, sind viele dieser Zuschreibungen eben genau das, Zuschreibungen und nicht Beschreibungen. Es ist wirklich kompliziert. Wenn man das mit der bunten Gesellschaft ernst nimmt und viele, viele Möglichkeiten in Betracht zuieht, muss man anders berichten als früher.

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