Ich suche Menschen, ich suche Gesellschaft. Ich will über Menschen schreiben, da muss ich auch Menschen sehen, und zwar mehr, als mir im Home-Office und in der Home-School über den Weg laufen. Viel mehr. Ich gehe in einen großen Park. Es ist ein Frühlingstag mitten im Winter. Sonnenschein, Pulloverwetter, für manche ist das auch schon T-Shirtwetter. Einige Büsche haben sich in aller Eile einen hauchdünnen Schleier aus lichtem Grün übergeworfen, noch leicht zu übersehen. Die Krokusse dagegen blühen schon in aller Deutlichkeit, der Rasen ist überall mit lilafarbenem Leuchten durchsetzt. Sogar zwischen den Pflastersteinen und Treppenstufen kommen hier die Frühblüher durch, überall strahlt es bunt und die Menschen im Park bleiben ab und zu stehen und lächeln und seufzen und zeigen sich die schönsten Stellen und machen dann Fotos von sich und den Blüten. Der Krokus beweist den Frühling, das ist sein Job. Und wer den ersten Krokus im Jahr sieht, der macht ein Foto davon für die sozialen Medien, das ist unser Job. Im Nebenerwerb dann noch die uralten Scherze über den Plural der Pflanze.
Eine junge Frau macht Fotos von einer anderen jungen Frau, die sich zu diesem Zweck in die Krokusse legt und dort dekorativ räkelt. Eine Schulter wird frei, ein Lächeln strahlt, eine Hand versucht verschiedene Haltungen, so oder so? Was ist besser? Finger in den Haaren, Hände an den Wangen. Augenaufschlag. Krokusse knicken unter dem Motiv weg, aus denen wird sicher nichts mehr. Man wird, wenn die Frau sich wieder erhoben hat, ihren Umriss in den Blumen noch ahnen können.
Zwei Schülerinnen gehen vorbei, bleiben stehen, pflücken Blumen, stecken sich Krokusblüten in die Haare und machen dann Selfies. Sie gucken auf ihre Handys und kichern und kichern. Auf den Fotos ist der Frühling 21, und es wird alles ganz normal aussehen. So normal albern, wie es in dem Alter eben ist.
Ich setze mich auf ein Mäuerchen und mache mir Notizen. Mir gegenüber sitzt ein Mann auf einer Bank und schreibt auch etwas. Ganz ernst sieht er dabei aus. Ab und zu guckt er sinnend in den Himmel, dann auf die Blüten, dann wieder auf seinen Block. Er schreibt immer nur einen Satz oder ein paar Stichwörter, dann macht er eine lange Pause. Bestimmt macht er viel geistreichere Notizen als ich. Das denke ich immer, wenn andere Menschen schreiben. Ich möchte nicht wissen, wie oft es stimmt.
Es ist unfassbar warm in der Nachmittagssonne. Die Menschen auf den Bänken recken die Gesichter in die Sonne, ziehen ihre Jacken aus, legen Mützen ab und setzen Sonnenbrillen auf.
Ich sehe überall nur einzelne Menschen oder Paare. Gruppen sind nicht erlaubt, die Kontaktbeschränkungen. Man hält sich daran. Die Paare reden miteinander und viele der einzelnen Personen reden in ihr Handy. Überall höre ich Gemurmel, leises Reden, Diskussionen in etlichen Sprachen, viel Englisch dabei. Hörte man früher auch so viel Englisch im Park? Ich kann mich nicht erinnern, früher ist lange her. Am Teich schnattern die Enten, das passt erstaunlich gut in das allgemeine Reden. Was ich nicht höre, das sind Schreie oder lautes Rufen. Ich höre auch kein Lachen, all die Laute höre ich nicht, die in Gruppen entstehen. Es toben auch keine Kinder herum, es ist alles dezent und eher verhalten. Da hinten ist eine Kita, der Spielplatz im Garten ist kinderleer. Wie voll und trubelig wäre es hier früher gewesen, bei diesem Wetter, zu dieser Uhrzeit. Aber jetzt – es ist ein Pandemiepark.
Zwei Männer joggen am Teich entlang, der eine sagt gerade: „In Berlin ist das aber anders.“ Der andere lacht und sagt: „Ja, in Berlin!“ Mehr höre ich nicht.
Das kann man, wenn man nicht gerade in Berlin ist, bei jedem Thema sagen: „In Berlin ist das aber anders.“ Das ist in jedem Smalltalk eine sichere Sache, damit wird man nie etwas falsch machen können, denn in Berlin ist es wirklich anders. Was auch immer.
Ein Mann sagt im Vorbeigehen zu einem anderen: „Die Kinder von Fridays for Future haben doch Recht.“ Der neben ihm sagt: „Ja, aber!“ Und dann folgt eine längere Erklärung, die verstehe ich schon nicht mehr, das macht nichts.
Ein Punk führt seinen Hund aus und sammelt dessen Kacke mit einem Beutel auf. Punk kannste schon sein, aber Kacke liegenlassen, also nein. Alles hat Grenzen.
Hier und da sitzen Menschen auf Bänken oder Klappstühlen und tippen in Notebooks und sehen konzentriert nach Arbeit aus, das wird wohl Park-Office sein. Neben einer Frau stehen mehrere Ordner im Rasen. Sie hat den Computer und ein Heft und mehrere Blätter auf dem Schoß, Wind darf nicht aufkommen.
Eine Mutter kommt mir entgegen, sie hält ihre Tochter an der Hand, die ist noch im Grundschulalter. „Mama“, sagt das Mädchen, „kaufst du mir eine E-Gitarre?“
Ich gehe herum und höre hier und da Sätze. Ein Mann sagt zu einer Frau: „Mein Problem ist ja, dass ich nie etwas versuche.“ Die Frau bleibt stehen und sieht den Mann an, ausgesprochen freundlich sieht sie ihn an. Der Mann guckt zurück und nach einer Weile ist klar, er versucht wirklich nichts. Schließlich lacht die Frau, wuschelt ihm durch die Haare, hakt sich bei ihm unter und zieht ihn weiter. Vielleicht fand da gerade eine Geschichte nicht statt, denke ich, vielleicht war aber auch genau das die Geschichte. Es ist manchmal schwer zu unterscheiden. Ich sehe den beiden nach, die Frau lacht immer noch. Der Mann nicht.
Ein Paar hat eine Box dabei und übt zu lauter Musik Salsa auf dem Weg. Tanzende Menschen, wie lange habe ich das nicht mehr gesehen! Ich bleibe einen Moment stehen und sehe zu. Nicht weit davon machen zwei auf ausgerollten Matten so etwas wie Yoga. Langsame, fließende Bewegungen, und Anfänger sind sie gewiss nicht. Allerdings stört sie jetzt die Salsa-Musik, sie kommen mehrmals aus ihrem ruhigen Rhythmus, versuchen es noch einmal. Dann geben sie es auf und wippen kurz mit den nach oben gestreckten Beinen im Takt der Salsa, das geht auch. Schließlich hören sie auch damit auf und sehen wie ich den Tanzenden zu.
Nicht weit von dieser Stelle gab es früher manchmal Swingtanz an Sommerabenden, ich habe dabei manchmal mitgemacht. Da habe ich draußen getanzt, mit etlichen Menschen! Ganz dicht kam man sich dabei, und ich kannte die anderen manchmal gar nicht, fremde Menschen hat man angefasst. Gesicht an Gesicht, Körper an Körper. Wie lange das her ist, es wirkt schon unvorstellbar und irgendwie pornös. Das war eine andere Zeit.
Ich komme noch einmal an der Bank vorbei, auf der der alte Mann gesessen hat, der sich wie ich Notizen gemacht hat. Auf der Rückenlehne steht etwas, mit schwarzem Filzstift hat da jemand hingeschrieben: „I saw myself sitting on a bench.“ Das soll man dann tiefsinnig finden, nehme ich an.
Ich gehe an einem geschlossenen Eiscafé vorbei aus dem Park. Vielleicht ist es zu, weil eigentlich noch Winter ist, vielleicht ist es zu, weil es Corona gibt. Man sieht schon gar nicht mehr hin, wenn etwas geschlossen ist. Es ist sowieso alles geschlossen.
Nur der Park nicht.
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Ja, in diesen Zeiten kommen die Geschichten nicht. Früher habe ich sie oft nicht aufgeschrieben, weil es zu viele waren. Jetzt sind keine da, also beschränke ich mich überwiegend auf dümmliches Tagebuchbloggen.
Danke, ich fühlte mich gerade richtig mittendrin in dieser Szene, umhüllt von diesen Gedanken.
Das war sehr schön.
Auf meiner Espressotasse steht:
Hamburg ist wie Berlin, nur geiler.
Soviel dazu.
Ach, Herr Buddenbohm, das ist mein Park, wie ich ihn kenne!