Der Pilz am Nilpferdpo

Man muss auch mal raus, dachten wir, also gingen wir spazieren. Planten un Blomen, der große Park. Immer ist er so überraschend dicht am kleinen Bahnhofsviertel, wenn wir doch einmal hingehen, immer wieder der Gedanke, da könnte man doch eigentlich öfter hingehen. Machen wir dann aber nicht, schon klar. Wenn man schon „eigentlich“ denkt.

Aber jetzt dann doch einmal. Aus Tradition gingen wir zum großen Spielplatz, obwohl die Söhne doch allmählich zu groß dafür sind, zu cool auch, einfach herausgewachsen. Wildes Gewusel am überfüllten Wasserspielplatz, wir stehen davor und denken damals. Da habt ihr früher auch, sage ich zu den Söhnen, und die stehen und erinnern sich. Und da war das und da war dies und guck mal, das gibt es immer noch. Ich habe da auch schon als Kind, sage ich, wann war denn das. In den Siebzigern, da fuhr hier noch diese kleine Bahn. Und da konnte man noch oben im Fernsehturm Kaffee und Kuchen im Drehrestaurant … Da hinten, diese seltsamen Plastikberge mit den Rutschen daran, die sind noch von damals. Glaube ich. Da habe ich auch schon.

Es ist dermaßen voll, es ist ein quirliges Kindergedränge. Wir holen uns Eis und suchen uns einen ruhigeren Platz am Rand, wir setzen uns zu viert auf eine Bank hinter einer hölzernen Nilpferdskulptur. Die reißt das Maul auf, die Skulptur, und sie ist so groß, dass Kinder bis etwa drei Jahre sich in diesem weit offenen Maul bequem zusammenrollen können. Zwischendurch geht ein Schauer nieder, ein harmloser Sommerregen nur, bei dem man sich kaum unterstellen muss, aber ein kleines Mädchen krabbelt ins Nilpferdmaul und strahlt uns von da aus an: „Trocken!“ Selige Verzückung im Gesicht, man möchte sich auch gleich da zusammenrollen und sich in Sicherheit fühlen. Aber man passt ja nicht mehr.

Am anderen Ende des Nilpferds wächst dem ein Pilz am Po. Ziemlich groß ist der, so ein bräunlichweißer Holzpilz, der da herauswölkt und seltsam überzeugend aussieht, als würde er in diesem Moment frisch gekackt werden. Schaumige Nilpferdkacke klebt da als Batzen am Spieltier, gleich wird sie herunterfallen, also denkt man so, aber das tut sie nicht. Der Pilz hält vielmehr und wächst vermutlich langsam weiter, er nährt sich immerhin von Nilpferd, das hält eine Weile vor.

Vorbeibummelnde Kinder und Eltern bleiben gebannt vor diesem auffälligen Pilz stehen. Erstaunen, Ekel, Skepsis. Wilde Heiterkeit, nachdenkliches Kopfschütteln, angewiderte Blicke, es ist alles dabei und die Menschheit zerfällt auch hier grundsätzlich in zwei Teile: Die einen gehen näher ran, die einen treten zurück. Forschungsauftrag und Sicherheitsabstand, es hat natürlich beides seine Berechtigung, es ist auch beides auf seine Art geschichtlich bewährt und manche Kinder gucken fragend zu den Eltern hoch, was denn hier wohl richtig sei?

Aber nicht alle Kinder gucken zu den Eltern. Einige gehen auch einfach so energisch ran, da ist etwas Neues, das muss erkundet werden, was soll man da groß fragen. Das muss betrachtet werden, angefasst und zerdrückt, wie fühlt sich das an, wie riecht das, wie sieht es innen aus, hallo, wir sind Kinder, wir müssen das wissen. Und ein kleiner Junge hat wohl auch ein leises „Iss mich!“ gehört und ein kleines Stück Pilz abgebrochen und den Happen fast schon auf der Zunge, aber da saust die Hand der Mutter in letzter Sekunde schnell wie ein Fallbeil herab und schiebt sich rettend zwischen Mund und Pilz.

Eine Mutter erklärt ihrer Tochter, dass der Pilz da ein Lebewesen sei, der dürfe dort sein und den müsse man nicht stören und schon gar nicht zerstören. Zweifelnde Blicke des Nachwuchses, ein Lebewesen, ja nee, ist klar, Mama.

Wir sitzen und essen Eis. In der Hecke hinter uns rascheln die Ratten turnend durchs Gezweig, sie sind nicht eben schüchtern. Sie gucken aus dem Laub, sie laufen über den Rasen zu den Picknickplätzen und dann gleich wieder zurück ins schützende Grün. Sie turnen auch in die Mülleimer, und wie geschickt sie das machen, noch nie haben wir das so genau und so lange beobachten können. Was für Sportler sind diese Tierchen, wie hoch sie springen können, ich hatte keine Ahnung. Und hübsch sehen sie aus, überraschend in Richtung waldbodenbraun, nicht großstadtbetongrau. Possierlich, das trifft es. Sie gucken zu uns, wir gucken zu ihnen, lange Blicke. Beide Parteien wägen ab, wie schlimm sie sich wohl gegenseitig finden sollen. Ein Sohn bewegt sich, da zuckt die Ratte vor uns zusammen. Eine Ratte läuft ungebremst genau auf unsere Bank zu, da zuckt ein Sohn zusammen.

Wir essen unser Eis, wir sitzen ganz still, wir beobachten Tiere. Ausdauernd und konzentriert ein Gebüsch ansehen, bis sich dort etwas bewegt. Wie son Tierfilmer! Ich unterlege alles im Kopf mit der Grzimek-Stimme und berichte mir selbst, was ich sehe, „die Ratte kommt aus der Deckung, wittert etwas und nähert sich vorsichtig dem ausgelegten Brötchenrest.“ 12 Tauben, 6 Ratten, 4 Kinder und 1 Pilz auf diesem Teil des Platzes. Das sind so die Verhältnisse, also mathematisch gemeint. Die Erwachsenen holen, wenn sie die Ratten bemerken, alle sofort ihr Handy heraus, pics or it didn’t happen, es ist längst ein gesamtgesellschaftlicher Reflex geworden. Ich mache kein Pic, ich schreibe das auf, ich bin aus der Steinzeit.

Dann wird der Regen doch mehr, die Menschen stellen sich unter Bäume. In unserer Nähe ein kleines Mädchen, das hat eine gelbe Regenjacke an und hält einen gelben Kinderschirm über sich. Es steht außerdem mit seinen Eltern unter einem gut geeigneten Baum, es bekommt ziemlich sicher keinen einzigen Tropfen ab, und es weint und weint. Der Vater sagt: „Du wirst doch gar nicht nass. Du wirst hier ü-ber-haupt nicht nass!“ Das Mädchen sieht ihn an, stampft mit einem Gummistiefel auf und sagt: „Aber ich wollte doch keinen Regen!“ So geht es nämlich zu auf dieser Welt, mit dem nicht wunschgemäßen Programmverlauf. Es dauert Jahre, bis man deswegen nicht mehr heult, und manche, das wissen wir, lernen es nie.

Das war jedenfalls ein überraschend interessanter Nachmittag, fanden wir alle. Es ist doch gut, wenn man mal rausgeht. Park und Natur und so. Voll schön eigentlich. Das mal öfter machen!

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4 Kommentare

  1. In der Geschichte kommt wirklich alles vor, was man für eine gute Geschichte über die Natur in großen Städten braucht. Und über die Menschen.
    Die braunen Ratten sind die Wanderer hatten, rattus norwegicus. Angeblich konnte der, der sie benannt hat, Norweger nicht leiden. So hat jeder seine Schwächen.

  2. Ach verehrter Herr Buddenbohm, wie schön, dass es noch so Steinzeitmenschen wie Sie gibt, die das dann alles für uns aufschreiben. Danke – von noch so einer Steinzeitmenschin …..

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