Dienstag. Im Laufe des Tages wird es kälter. Auch in die Wohnung ist die Kälte während des Vormittages eingezogen und hat sich dann über den Nachmittag dort festgesetzt, die Küche bleibt die letzte sattwarme Insel. So kühl ist es auf einmal in der Wohnung, dass wir im Home-Office an den Schreibtischen sitzen und ab und zu schon zur Heizung sehen, ob man denn jetzt, und man könnte doch, es ist bei geöffnetem Fenster doch geradezu frisch, ist es nicht? Aber ich lebe mein life natürlich to the fullest, wie es immer so schön heißt, bei mir kommt also erst richtiges Frieren, dann deutlich nachgelagert das Heizen, sonst macht es ja keinen Spaß.
Ich home-office, du home-officest, wir home-officen.
Die Abendrunde. Die Außengastronomie auf dem Platz um die Ecke ist nur noch dürftig besetzt, nicht einmal ein Viertel der Plätze ist belegt. Die Gäste, die dort sitzen, tragen auf einmal Wintermode, aufgeplusterte Jacken und Wollschals. Da wird der Herbst gleich komplett übersprungen, sonst hält man keine zwei, drei kalten Biere durch auf diesen Stühlen, am Abend, draußen, im Wind. Die Körper der Menschen vor den Kneipen wirken seltsam zusammengeschnurrt. Verkürzte Hälse, eingezogene Beine, untergeschlagene Arme, die Leute krümmen sich um ihre Restwärme und ziehen die obligatorischen blauen oder roten Decken fröstelnd enger um sich. Es ist gar nicht furchtbar kalt, es ist nur ungewohnt, so hat man lange nicht gesessen. Alles erst mühsam wieder einüben, auch den Herbst.
Vor dem Hauptbahnhof sitzt einer auf dem Boden, in einer eher dreckigen und dunklen Ecke des Vorplatzes sitzt er, und spielt Gitarre. Er spielt spanische Musik, wenn ich es richtig deute, ist das Flamenco. Seine Hände machen Sachen, die mir anatomisch eher unwahrscheinlich vorkommen und seine Finger rasen in einer galoppierenden Geschwindigkeit über die Saiten, die mit der norddeutschen Feierabendträgheit so gar nichts zu tun hat. Ein Mensch bleibt vor ihm stehen, noch einer, noch einer. Sie sehen sich an, sie sehen den Gitarristen an – der ist richtig gut, oder nicht? Ist der besonders? Fragende Blicke, hier und da ein anerkennendes Nicken, alter Schwede, das ist aber nicht die übliche Straßenmusik, das ist deutlich mehr. Ein Publikumskreis bildet sich schnell. Die ersten filmen den Musiker mit dem Handy, immer muss alles mit dem Handy gefilmt werden, sonst ist es nicht passiert. Jetzt singt der auch noch. Oder er schreit, aber es ist doch irgendwie Gesang, was ist das. Der singt sich da die Seele aus dem Leib, das klingt vollkommen unerwartet, schon gar aus dieser Haltung heraus, aus dem Sitzen, aus dem Dreck, aus der Dunkelheit dieser schlecht beleuchteten Stelle vor einem Bauzaun. Aber es ist großartig.
Zwei Männer aus der Trinkerszene hören zu und fangen vor Begeisterung an zu tanzen. Der große und nicht eben grazil gebaute Kerl, der dabei spontan die Dame gibt, er macht das gar nicht schlecht und nicht ohne eine gewisse Grandezza in der Bewegung, so ein schickes Schnörkeln in der Bewegung von Hand und Arm bei der Drehung… zumindest bis er ins trunkene Taumeln gerät und doch lieber wieder stillsteht und sich aufs leider kastagnettenlose Fingerschnippen beschränkt.
Jemand wirft Geld in den Rucksack des Gitarristen, andere machen es ihm kurz darauf nach. Ich kann kein Spanisch, ich habe in seinem Gesang leider nur ein einziges Wort verstanden, hermosa war es. Das heißt wunderschön.
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Trauriges Liedgut mit Herbst- und Spanienbezug? Haben wir auch. „So take heed, take heed of the western wind, take heed of stormy weather.“
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Ich bin ständig überrascht, warum die Bäume sich verfärben und ihr Laub verlieren. Und wieso es morgens sooo lange dunkel ist. Dann gucke ich auf den Kalender und stelle fest, dass wir Mitte Oktober haben.
Mit anderen Worten: Ist noch Platz auf der Couch mit dem verständnisvoll nickenden Menschen?
Alles wieder einüben, ja.