Da brauchen wir einen Sonnenuntergangston in der Musik, vielleicht den in der Stimme von Bedouine, für mich eine der schönsten Stimmen überhaupt. Also im Moment, versteht sich.
Ich fuhr durch Niedersachsen. Ich fuhr in die untergehende Sonne, es war anstrengend. Obwohl ich auf der Autobahn war, fuhren viele langsam, ich auch. Man sah nichts, es blendete, und wie es blendete, frontal auf den großen Scheinwerfer zu, mit 90 Stundenkilometern fuhren wir direkt in die Sonne und es dauerte, bis ich mich endlich hinter einen LKW hängen konnte, der das gleißende Licht mit seiner Plane für ein paar Minuten und Kilometer verdeckte. Dieses Licht, das kurz darauf den Ton veränderte, von greller Strahlung zu mildem Messingleuchten, während der Himmel weiter oben an einigen Stellen noch tieftürkisblau war, die Wolken davor aber schon nachtschwarz ausfederten, Tuschezeichnungen mit unfassbar mühsam ausgearbeiteten Details. Unten die Bäume neben den Äckern, teils schon kahl, scherenschnittklar vorm altgolden auslaufenden Horizont, ebenso die riesigen Windräder, präzise wie technische Zeichnungen auf jetzt dunkelblauem Karton, rotes Warngefunkel an den Stämmen. Dann mehrere Vogelgruppen, quer über den Abendhimmel, grob Richtung Süden peilend. Kraniche und Gänse meine ich erkannt zu haben, aber das heißt nicht viel, was erkenne ich schon. Zwei Dreiergruppen, dann ein Sechser, dann zwölf Vögel, wie neulich schon bei den Krähen am Kirchturm. Alle Anzahlen waren durch drei teilbar, warum das nun wieder, „stelle eine begründete Vermutung an“, würde es im Bio-Arbeitsheft des einen Sohnes heißen, mir hat die Home-School das Gehirn doch ernsthaft verbogen. Sieben Schwäne jedenfalls flogen da nicht, wenn ich schon bei Vögeln und Zahlen bin (Volkslied: fünf Schwäne, Grimm: sechs Schwäne, Bechstein: sieben Schwäne, Andersen: elf Schwäne, auch das eine merkwürdige Zählung, da mal drüber nachdenken).
Dann drei Kraniche vor der Sonne, schwarze Vögel auf Messingscheibe, wie einer dieser Dekoteller aus den Fünfzigern, die bei den Großmüttern standen oder hingen, aber mit invertierten Farben. Der Sekundenbruchteil, in dem diese drei Kraniche präzise vor dem glimmenden Rund platziert waren, wie schön war das denn.
Danach wieder Gänse, ein V bildend, ganz tief flogen sie. Die Spitze des Buchstabens zeigte Südwest und direkt neben der Sonne bildeten sie als Formel auch kleiner O, dann zerflatterte das schon wieder, formierte sich um, und man kann dann ja nicht stehenbleiben, da auf der Autobahn, auch wenn es gerade noch so hinreißend ist, was man vor sich sieht. Man kann da nicht rechts ran und sich schnell abschnallen und die Tür aufreißen, aus dem Auto springen, zum Himmel zeigen und „Sieh doch! Sieh doch!“ rufen. Aber es wäre mir schon danach gewesen und ich sagte zur Herzdame auf dem Beifahrersitz, die gerade mit einem Sohn auf der Rückbank Grammatik übte, adverbiale Bestimmungen des Ortes und der Zeit, also etwa wir fuhren abends über die Autobahn, zur Herzdame jedenfalls sagte ich, schreib mal bitte auf, Vögel vor Messing.
Und immerhin kennen wir uns lange genug, dass sie das dann nebenbei einfach macht und sich nicht weiter wundert. Vögel vor Messing, okay. Das war die Nachricht, ich habe sie gerade auf dem Handy gelesen. So war das.
Am nächsten Morgen dann, ich twitterte es bereits, Sonnenaufgang über Nordostwestfalen. Ich sehe morgens aus dem Fenster, Wind kommt gerade auf. Trockene Blätter rascheln über die Landstraße, als müssten sie eilig zu einem Termin, hastende Schrittchen, federleichtes Volk in großer Eile. Vielleicht vor dem November weg, der kommt dahinten, man sieht ihn schon, er hat Regen dabei. Ein früher Trecker fährt den Blättern langsam hinterher. Eine Katze auf einem Zaunpfahl sieht den Blättern und dem Trecker gelassen nach.
Mehrmals kam dazu der Hinweis auf Twitter, dass auf diese Art doch Bücher anfangen, Kinderbücher vor allem, mit so einem Blick auf die Straße, und dann der Wind, das kennt man doch. Aber wie es so ist, es geht hier vermutlich nicht mit dem Erscheinen magischer Zeichen oder Personen weiter, wobei ein Restrisiko natürlich immer bleibt, so vermessen und allzu nüchtern möchte ich nicht sein, und genau in diesem Moment hebt die hereingekommene und vor mir dösende Katze den Kopf und sieht mich durchdringend an, so ist es ja immer. Aller Voraussicht nach wird sie jedoch nicht zu mir sprechen, sondern nur wieder ich zu ihr, wird der Tag auch ansonsten ruhig und gewöhnlich verlaufen, wird dies also kein Kapitelanfang sein, sondern einfach nur ein Blogtext vor einem weiteren Blogtext, dem dann ein weiterer und noch einer folgt, ganz ohne Plot, Timing und Struktur. Aber andererseits – was weiß man schon.
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Ich lese zunächst wieder „Vögel vorm Essig“ und schon hab ich eine Küchenszene im Kopp, da merkt man sie wieder, die grundlegenden Unterschiede.
Zu Zahlenfolgen: es gibt Bibliotheken von Zahlen, also Datenbanken, eine nur für Zahlen, eine andere für Zahlenreihen, und die Einträge da drin haben dann wieder spezielle Kennzahlen, auch die Schwäne kommen drin vor: https://oeis.org/search?q=5%2C+6%2C+7%2C+11&language=english&go=Search – aber natürlich heißt das nicht Schwansequenz, sondern irgendwas mathematischlangweiliges wieder.
Einfach nur ein Blogtext vor einem weiteren Blogtext?
Nein……
Das hier sind nicht „einfach nur Blogtexte“. Das zu lesen ist pure Freude und anhaltendes Staunen darüber, wie jemand in der Lage sein kann, Alltagsbeobachtungen so mitreißend in Worte zu kleiden.
Eigentlich zu schade, dass selbst Sie (vermutlich) nachts die Augen schließen.
Einen guten Tag wünscht
Julia.
Vielen Dank!
„Man kann da nicht rechts ran und sich schnell abschnallen und die Tür aufreißen, aus dem Auto springen, zum Himmel zeigen und „Sieh doch! Sieh doch!“ rufen.“
Leider nein – wie wenige Menschen haben einen Blick für diese Wunder unserer Welt, anbetungswürdige Momente unseres Lebens. Wenn wir es doch könnten, wir würden sorgsamer mit unserer Umwelt umgehen …