Theater von außen, Drogeriemarkt von innen

Ich gehe dauernd durch den Stadtteil. Ich gehe viel, ich bin bewegungshungrig, wie immer, wenn es auf den Frühling zugeht. Ich drehe abends mehrere Runden durch den Hauptbahnhof und durch die Einkaufsstraßen in der Innenstadt und im Stadtteil, ich sehe mir die Menschen an. Ich gehe runter zur Alster, ich streife durchs Revier, durchs kleine Bahnhofsviertel. Ich sehe mir jeden Laternenpfahl an, jede Wand und jeden Stromkasten, immer achte ich auf neue Botschaften, auf Aufkleber, Beschriftungen, Graffiti-Kunst, Plakate, Geschmiere. Die neue Weltlage ist noch nicht an den Wänden hier angekommen, an den Wänden geht es noch um die alten Katastrophen, um das Klima, um den Naturschutz, Corona, Rassismus. Auch Aufkleber mit politischen Botschaften müssen erst gestaltet, bestellt, gedruckt und geliefert werden, Sponti-Kunst und betriebliche Abläufe. Es wird bald etwas kleben, gar keine Frage.

In den Gesprächen geht es um die neue Katastrophe. Ich höre es im Vorbeigehen, man sitzt in den Sonnenstunden jetzt wieder in der Außengastro, auch wenn es von unten im wahrsten Sinne noch arschkalt ist. Ich erlebe das Thema auch, wenn ich jemanden treffe, wenn ich telefoniere, in jeder Begegnung kommt es vor. Hilfsmöglichkeiten, darum geht es ebenfalls. Was man jetzt könnte, was man bald müsste, was man demnächst mal macht. Möglichkeiten durchgehen, Allianzen abchecken, es ist einiges in Vorbereitung. Es wird geholfen werden, daran besteht kein Zweifel. Wer hilft, der tut etwas, wer etwas tut, dem geht es besser, es ist einfach.

Es gibt hier bei den Bäckern nicht so wie anderswo schon Kuchen mit blaugelbem Zuckerguss, ich sehe auch in den Schaufenstern der Läden nichts Neues und keine Botschaften. Nur das Schauspielhaus hat die riesige Werbefläche vorne am Haus komplett blaugelb gefüllt, das Schauspielhaus ist mit so etwas immer schnell. Ich gehe da nicht so gerne rein, die Inszenierungen sind nicht mein Geschmack, aber ich sehe es von außen oft gerne, politisch werden wir uns einig.

Die Leuchttafeln im Bahnhof schalten zwischen Werbebotschaften und Wettermeldungen kurz auf Blaugelb, das auch.

Im Drogeriemarkt fragt die Frau an der Kasse: „Wollen Sie aufrunden für die Ukraine?“, und es klingt fast so routiniert wie die Frage nach der Kundenkarte oder dem Bon, denn das fragt sie seit Stunden schon jede und jeden. Einige Kundinnen schütteln den Kopf, einige sagen zu, einigen runden auch deutlich auf, niemand fragt nach. Dieser Drogeriemarkt hilft oft auf ähnliche Art, hat auch früher schon solche Aktionen gemacht, da vertraut man. Vermutlich passiert etwas in der Art bald auch im Edeka, vermutlich ist die polnische Gemeinde, die hier sehr groß ist, ebenfalls schon überaus aktiv. Ich sehe auf dem Handy nebenbei eine Meldung aus dem Heimatdorf der Herzdame in Nordostwestfalen, dort startet ein LKW mit Hilfsgütern nach Stettin, wo das Material an eine polnische Organisation übergeben und dann Richtung Ukraine weitertransportiert wird.

Im Park Spielplatzszenen, es wird auch da über den Krieg gesprochen und ein kleines Mädchen sagt, mit einer Mischung aus Zorn und Entsetzen im Gesicht: „Da sind doch Kinder!“ Und dann will sie das alles erklärt haben. Der Moment, in dem verstanden wird, dass die Erwachsenen die Welt nicht so gut eingerichtet haben. Seit zigtausend Jahren in jeder Generation, nehme ich an.

Ich bin seit 2015 langsam zum Pessimisten geworden. Mittlerweile bin ich es wohl durch und durch, es war ein längerer Prozess. Es gibt viele Gründe dafür, einer der besten für diese Haltung ist aber: Es ist für Pessimisten viel besser zu ertragen, wenn sie einmal Unrecht haben, wenn sie sich täuschen. Und wie oft habe ich mich im Leben schon getäuscht.

Es ist März. Wir haben immerhin den Februar geschafft, es war wohl der übelste meines Lebens, vielleicht unseres Lebens, das ist eine sachliche Feststellung.

Weitermachen. Und Pessimismus nie mit Verzagtheit verwechseln, das ist wichtig. Früher sprach ich oft vom fröhlichen Fatalismus als Leitmotiv, das trifft es mittlerweile wohl nicht mehr ganz. Ich denke noch über „Verwegenes Weitermachen“ nach. To boldly follow the daily routine. Ja, das könnte er doch sein, der neue Satz, an den ich morgens denken kann, im Vorspann des Tages.

Egal. Jetzt Wäsche aufhängen, dann staubsaugen.

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