Zahlengemurmel um mich herum

Auf dem Sweatshirt der Frau neben mir an der Ampel steht: „SOS Humanity – Seeenotrettung im Mittelmeer.“ Auf dem Pullover des Arbeiters drüben am Haus, der einem Kollegen gerade Eisenstangen runterreicht, steht: „Vertrau mir, ich bin Gerüstbauer.“ Der zerzauste Rentner mit dem taumeligen Gang, der aussieht, als könne er schon beim nächsten Schritt umfallen, hat einen verbeulten Rucksack auf, auf dem steht: „Et kütt, wie et kütt.“ Auf meinen Sachen steht nichts, ich habe überhaupt keine Sachen, auf denen etwas steht, ich schreibe nur selbst. Nicht einmal meine Unterhosen sind mit Text bedruckt, obwohl es immer schwerer wird, unbeschriftete Unterhosen zu bekommen. Es steht bei fast allen groß und werbend der Hersteller- oder Designername auf dem Bund, wobei ich immer denke, dass das bei mir – aber gut, ich lebe im Moment eher konservativ -, doch nur eine recht kleine Zielgruppe zur Kenntnis nehmen kann, was da knapp unterhalb meines Bauchnabels zu lesen ist. Wirbt das denn? Wo ist der Sinn?

Egal. Aber apropos Unterhosen. Neulich war ich in einem Textilkaufhaus, man hat doch ab und zu gewisse Notwendigkeiten. Ich wunderte mich über die langen, langen Schlangen an den Kassen, auch darüber, dass da nicht viel Bewegung in den Schlangen zu sein schien, es dauerte alles entsetzlich lange, fast wartezimmerlang. Und ich stand und stand, wir alle standen und standen dort. Erst als wir nahe genug an der Kasse waren, bekamen wir allmählich mit: „Heute keine Kartenzahlung.“ Die Frau an der Kasse sagte das jedem Kunden einzeln, leise, freundlich und erst, wenn er dran war. Statt das mal durchzusagen und große Warnschilder aufzustellen, und dann wundern sich wieder alle, warum die Menschen so gerne online bestellen. Denn natürlich hatten etliche nicht genug Bargeld dabei, fingen dann also an hektisch nachzurechnen, addierten Preise und zählten Scheine, fragten auch schon einmal begleitende Menschen, ob sie nicht vielleicht … und die kramten dann ebenfalls nach Geld und zählten und rechneten, Zahlengemurmel um mich herum.

Vor mir noch etwa sechs Kundinnen oder Kunden, von denen hat es dann niemand geschafft, die Preise der Ware auf dem Arm auch nur halbwegs richtig zu überschlagen. Lachen, Ratlosigkeit, erstaunte Blicke auf den Preis an der Kasse: „Echt jetzt? So viel?“ Wir sind komplett lost, vergessen Sie PISA und das Nachdenken über MINT-Fächer, es ist alles zu spät.

Nein. Es war selbstverständlich keine vernünftige Stichprobe, und ich hatte keine Zeit, sie an den nächsten hundert Kunden sorgfältig zu überprüfen. Es war nur anekdotische Evidenz, die beweist rein gar nichts, die erzählt sich nur nett.

***

Heute. Auf dem Weg zum Einkaufen sehe ich den bekannten Theaterschauspieler, der auf den gleichen Wegen, die ich täglich gehe, immer seine Texte übt, manchmal stimmlos, manchmal halblaut deklamierend. Er hat seinen eleganten Hut tief in die Stirn gezogen, er trägt schwarze Kleidung, er spricht mit finsterer Miene. Ich höre gerade die Novelle Carmen von Prosper Merimée als Hörbuch, als ich ihn neben mir gehen sehe, et voilà, da habe ich meinen Don José leibhaftig vor mir.

Ich sehe mich um – keine Carmen weit und breit. Die Inszenierung des Tages ist seltsam unvollständig. Aber das Gefühl habe ich seit zwei Jahren ohnehin immer öfter.

***

Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber ganz klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel. Merci!

3 Kommentare

  1. Jeden Tag schaue ich nach, ob es „Neues Futter“ gibt. Fast jedes Mal freue ich mich über den Beitrag und die Formulierungen.

    Heute fand ich sowohl den gesamten Beitrag als auch besonders das mit dem „Et kütt wie et kütt“ noch besser als sonst. Vielen lieben Dank!!

    P.S. Das mit dem MINT und dem Englisch können muss man ja auch beweisen bei dem X x 8 = fifty six.

  2. Sehr sprechend auch, dass die Teuerheit erst bewusst wird, wenn es um Bares geht.

    Ansonsten: was Kölnerbernd sagt.

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert