Ich lese Jane Gardam, das Mädchen auf den Felsen, Deutsch von Isabel Bogdan, deren Blog nicht mehr ganz so aktiv ist, um es dezent auszudrücken. Andere Leute kommen auch zu nichts, ich will es tröstlich finden.
Das Buch gefällt mir jedenfalls sehr gut. Ich werde, das kann ich glaubhaft nach der ersten Hälfte beschließen, auch den Rest der Gardam lesen. Ich verliebe mich etwas in die Formulierung “keine Hobbys beschmutzten den Haushalt“ und freue mich noch Stunden später darüber, so soll das Lesen sein. Das Mädchen auf den Felsen ist allerdings schmal und schnell gelesen, ich habe dummerweise gerade keine anderen Gardams in Griffweite und greife daher zu Elizabeth Bowen, zu Kurzgeschichten von ihr. „Sommernacht“ heißt der Band, Deutsch von Sigrid Ruschmeier. Und wenn Sie mal einen wirklich sensationell gelungenen Übergang zwischen zwei Büchern hinbekommen wollen, was ich übrigens für eine stark unterschätzte Kunst halte, dann lesen Sie Bowen nach Gardam, es wird ein spektakulärer Erfolg sein. Als würde man nacheinander zwei Pralinen aus derselben Schachtel essen, als würde man die Werke von Schwestern lesen.
Ich befinde mich auf Eiderstedt, ich lese englische Bücher. Sie spielen zu Zeiten, als Geschichten noch damit begannen, dass Autos, die man sich heute als prächtige Oldtimer vorzustellen hat, auf dem knirschenden Kies vor Herrenhäusern hielten, was man auch aus Filmen sattsam kennt, genau diese Sequenz, tausendfach wurde sie gedreht und beschrieben und ich lese also wieder einmal davon. Der Kies knirscht, der Wagen hält und in dem Moment, in der Sekunde, in der ich mit den Augen über diese Zeile fliege, knirscht der Kies vor dem großen Bauernhaus, in dessen Dachkammer ich gerade liege, und ein Wagen fährt vor. Ein Moment von erheblicher Schönheit ist das. Der Schlag klappt, Schritte auf dem Kies, Hühnergackern im Hintergrund, noch weiter weg steht dunkel rufendes Vieh auf der Weide, zwei Atemzüge Pause, dann setzt die Nachtigall ein.
Dafür mache ich Urlaub, glaube ich, hauptsächlich für so etwas.
Dann fällt mir ein, dass ich den knirschenden Kies auch nehmen kann, um hier demnächst weiter zu erzählen, auch wenn das Blog kein Roman ist und auch keiner werden wird, den knirschenden Kies gibt es doch und ich sitze als Autor vor einer Speisekarte mit möglichen Anfangssequenzen, überlege etwas und sage dann zu dem heraneilenden Kellner: „Für mich zuerst den knirschenden Kies, bitte.“
Denn auch als wir hier ankamen, auf dem Hof auf Eiderstedt, bogen wir auf eine Kiesfläche ein, knirschte es unter den Reifen, und genau da will ich also in Kürze fortsetzen. Sobald ich dazu komme und die Kraft wieder reicht, diese Kraft, an der es mir immer noch mangelt.
Ich habe mit etlichen Menschen gesprochen, die Corona hatten, es besteht ja kein Mangel an Gelegenheiten, es ist im Moment eher eine Überfülle vorhanden, alle hatten es gerade, haben es gerade oder bekommen es heute noch. Viele berichten von bleibender und bleierner Müdigkeit, von Schwäche und Erschöpfung, viele berichten, detailliert sogar, was sie alles wie lange nicht konnten. Bei mir ist es etwas anders. Ich glaube, ich kann alles (diesen Satz lieber nicht aus dem Zusammenhang reißen). Also theoretisch zumindest kann ich alles. Körperliche Kraft hätte ich wohl, mir fehlt nur komplett und ich denke sogar in einem mir bisher unbekannten Ausmaß jeglicher Antrieb, ich denke fortwährend, hauptsächlich und in Bezug auf alles: „Nein.“ Da ich Corona hatte, kann ich es einfach darauf schieben, das ist praktisch und entlastend. Wochenlang kann das dauern, so lese ich bei anderen, die mir vorausgingen, und mit Long-Covid hat das noch nichts zu tun, das immerhin. Vermutlich liegt dieser Urlaub als Zeit der Rekonvaleszenz also recht praktisch im Kalender herum. Das war nicht geplant, aber es geht gut auf, möchte ich annehmen.
Ich gehe spazieren. Ich gehe zwei Weiden weit, ich denke „Ach, reicht auch.“ Dann denke ich: „Mist, jetzt noch alles zurückgehen.“ Ich stehe unmotiviert in der Landschaft herum, Kühe sehen mich an. So in etwa fühlt sich das an.
***
Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel. Merci!
Das mit dem erschöpft-antriebsarmen „Nein“ ist – danke dafür – gewohnt treffend beschrieben, erlebe ich bei mir gerade genau so.
Wie immer, mit Vergnügen gelesen. Auch wenn die Corona-Antriebslosigkeit für den Betroffenen kein Vergnügen ist. Aber ich kann eventuell einen Satz zur Beruhigung beisteuern. Ich habe die Antriebslosigkeit seit meiner Kindheit und man kommt ganz gut damit zurecht.
Unmotviert in der Landschaft stehen kann ich auch. Gern sogar.
Mein Corona war sehr sanft, Glück gehabt, aber ich kann nicht mehr verdrängen, daß ich jetzt deutliche Konzentratioonsschwächen habe. Nun hatte ich die auch vorher, und auch das Bedürfnis nach vielen Pausen schon, das ist einfach Alter. Aber jetzt ist das einfach noch öfters und länger und wirklich doof. Vorgestern hab ich sogar mit Brainfog geträumt: da, wo mir sonst sofort Vielebuntebilder einfallen, kam einfach nix, nur so ein rostbraunes Gewölle, ungeformt und unassoziierbar, und es quälte mich, daß einfach kein richtiges Bild kommen wollte als Traumkeim.
Allen perfekte Besserung!
Gute Besserung, Herr Buddenbohm, und Dankeschön für diesen Text
Hier auch, seit der Pandemie eigentlich schon, nicht erst seit der eigenen Infektion, immer öfter ein deutliches Gefühl von
„I would prefer not to“
Gardam ist übrigens wirklich grossartig, alles von ihr… so gefühlvoll übersetzt, aber die Frau Bogdan ist auch eine Meisterin der Sprache!
Herzliche Grüsse nach Eiderstedt
… was man vielleicht als Anschluss auch gut lesen könnte, wäre Elizabeth Strout… ich freue mich auch immer, wenn ich das schaffe mit der passenden Anschlusslektüre
Das ist, weil die Zeit nicht stimmt. Halsschmerzen, Fieber, NNH-Katarrh und dann den lösenden Husten bekommt man, wenn man den Christbaum in die Stube holt. Und hat dann nix vom guten Gänsebraten, einmal in Jahr, weil die geblockten Nebenhöhlen auch jeden Geschmackssinn ausschalten. So war das immer, so ist das jetzt, aber völlig aus der Zeit gefallen.
Gut ist, der Körper kann das noch, fiebernd einen Infekt verarbeiten und auf den nächsten dann besser vorbereitet sein, und auf den übernächsten noch besser. So soll das. 4.Impfung? Von mir aus wieder im Herbst. Schad’t ja nix.
Weiterhin gute Besserung!
Antriebslos als Coronafolge? Wird wohl so sein, und zusammen mit „urlaubsreif“ doppelt so stark, aber es besteht begründete Hoffnung auf Erholung. Einfach mal dem Nichtstun ergeben!
Bei Ihnen, lieber Herr Buddenbohm, begegnete ich vor Jahren erstmals dem Namen Isabel Bogdan und deren hochwertige Übersetzertätigkeit. Daraufhin las ich mit allergrößtem Gewinn alles von Jane Gardam und anschließend alle – jedes in seiner Art wunderbar – Bücher von Frau Bogdan selbst.
Und jetzt freue ich mich auf Ihre neue Empfehlung und werde Elisabeth Bowen kennen lernen. Danke!
Gute Besserung allen — den Schreibenden wie den Mitlesenden.
Noch gehöre ich zu den Glücklichen, die von SARS-COV-2 verschont geblieben sind. Und auch ich ringe mit meinen Kräften, brauche mehr und ausgedehnte Phasen der Erholung.
Vielleicht unterschätzen wir, wie viel Energie wir in den vergangenen Jahren alle aufbringen mussten, um das ohnehin viel zu hohe Tempo unserer Gesellschaft aufrecht zu erhalten?
Die Frage ist nur: Was entwickeln wir aus dieser Erkenntnis? Den Anspruch zu weiteren Selbstoptimierung — nach dem Motto „aber ich muss doch!“ Oder hinterfragen wir die Grundannahmen und gesellschaftlichen Strukturen? Dann bekäme alles einen tieferen Sinn und die Krisen bewiesen: Der Mensch ist im Grunde gut (ich grüße Rutger Bregman).
Derweil finde ich schön, dass wir zurück zum entspannten Nichtstun finden. Wie heißt es so schön: „Sagt die Seele zum Körper: Geh du voraus. Auf mich hören sie nicht.“ So lernen wir Demut von und mit der Natur.
Über „Kiesgeräusch“: Ein aufschlussreicher Lesetipp dazu, der zwar nicht Jane Gardam ist, aber den Horizont in überraschender Weise erweitert:
Aus „Noblesse oblige: Die Kunst, ein adliges Leben zu führen“
von Christine Brühl
https://books.google.de/books?id=Sq2qCgAAQBAJ&pg=PT107&lpg=PT107&dq=kiesger%C3%A4usch&source=bl&ots=0GB1ZkT7PP&sig=ACfU3U3fYE9aJFYmU-kpC1kqMutsKhOF-Q&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwimt-392Pr4AhVtVPEDHca0CB8Q6AF6BAgCEAM#v=onepage&q=kiesger%C3%A4usch&f=false