Herrlich sinnlos

Eine Woche geprägt von Müdigkeit, und nicht nur von der eigenen. Auch die Müdigkeit der am frühen Morgen nachtbleich durch die Wohnung taumelnden Familie, der Menschen am Telefon, der Nachbarn auf der Straße, aller Menschen um mich herum. Wen ich auch anspreche: „Ich bin so müde.“ Ist es das Wetter, ist es die Jahreszeit, ist es alles. Egal. Sich in den September fallen lassen.

In der U-Bahn, mit der ich zur Feier der letzten 9-Euro-Ticket-Tage noch einmal herrlich sinnlos fahre, sitzt mir eine junge Frau gegenüber, die Murakami liest und beeindruckend hartnäckig gegen das Einschlafen kämpft. Womit ich nichts gegen Murakami gesagt haben möchte, den habe ich noch nie gelesen. Der Kopf der jungen Frau sinkt nach vorne, die Augen klappen zu, sie reißt den Kopf wieder hoch und die Augen weit auf, nicht schlafen jetzt, hier wird gelesen, und sie starrt angestrengt ins Buch, die Augenlider auf halbmast. Sie gibt sich redlich Mühe, aber es ist so schwer, so furchtbar schwer. So schwer wie der Kopf, der schon wieder sinkt, ganz langsam sinkt, auf eine Art, bei der man selbst auch müde wird, wenn man ihr nur einen Moment zusieht.

An einer Haltestange hinter ihr hängt eine Fliege. Nicht das Insekt, das Männermodenaccessoire, das heute eher selten im Gebrauch ist. Irgendwo habe ich auch noch so eine, warum und woher eigentlich. Diese Fliege in der U-Bahn, Seide, schwarz, neuwertig, hat jemand da oben an die Stange gebunden. Sie baumelt, wenn die Bahn anfährt, träge ein wenig hin und her und man wird nicht erfahren, wer sie sich wann und warum vom Hals gerissen und dort oben vertäut hat. Die junge Frau da vorne liest mühsam wachbleibend Geschichten, hinter ihr hängt ein Teil einer anderen Geschichte, man bekommt es nicht zusammen. Es sind nur Absätze aus einem Großstadtroman, keine Kapitel.

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Der erste Elternabend der neuen Saison. Ich sitze eine Stunde im Klassenzimmer neben einem dieser tollen Luftfilter, über deren Anschaffung im letzten Jahr so unendlich viel debattiert worden ist. So ein Luftfilter, der aktuell allerdings nicht eingeschaltet werden darf, laut behördlicher Anweisung, um die Filter zu schonen.  Man muss da keine Pointe hinterher basteln, nehme ich an, das wird so reichen.

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An einem Imbissstand gibt es vegane Currywurst, und es gibt auch Pommes. Mit Ketchup und Mayo, wie überall. Die Mayo aber, sie ist als einzige Zutat nicht vegan, wie es das Personal bei jeder Bestellung korrekt betont. Während ich auf meine Pommes warte, höre ich die Reaktionen auf diese Aussage. Die einen, manche sind die Begleitpersonen von Menschen mit fleischloser Ernährung, sagen so etwas wie: „Na, Gott sei Dank!“ oder auch: „Umso besser!“ oder „Wenigstens etwas!“, und sie sagen es mit einem seltsamen Höhö-Tonfall, allzeit zur Gehässigkeit bereit. Die anderen sagen so etwas wie: „Dann will ich die aber nicht!“ oder „Warum das denn nicht!“ oder „Ach Fuck!“, und sie sagen es mit eigentlich unnötiger Schärfe.

Es ist immer genug Energie da, um sich über die richtige Ernährungsform vehement zu ereifern, aber das ist wohl keine Energie, die wir irgendwie nutzbar machen können. Schade eigentlich.

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In den letzten Wochen fragte ein Sohn irgendwann, als wir Nachrichten gehört hatten und die Lage gerade wieder besonders wüst war, wie sie es im Moment allerdings fast täglich ist, ein Desaster nach dem anderen, Katastrophe auf Katastrophe, fragte ein Sohn also: „Ist das jetzt nicht wie in diesem Film da, „Don’t look up“?

Und obwohl ich sonst der Ansicht bin, dass jede Pointe unbedingt mitzunehmen ist, in nahezu jeder Lebenslage, habe ich nicht geantwortet: „Wir haben doch alles.“

Ab und zu auch mal zusammenreißen. Wie so ein ernsthafter Mensch.

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8 Kommentare

  1. Lieber Herr Buddenbohm,

    Eine Frage und ein Kompliment (wie im Juni versprochen).

    Das Kompliment zuerst:
    Bei Ihnen mitzulesen ist ein bisschen wie nach Hause kommen, sich unter die Kuscheldecke kuscheln und sich aufgehoben fühlen. Auch wenn die Welt draußen klirrt und knarrt, so ist es bei Ihnen zwar nicht zwangsläufig fröhlich, aber ruhig, durch Ihre sorgfältig beobachteten Momentaufnahmen auf eine ganz bestimmte Art beschaulich und ausgewogen melancholisch.
    Das tut gut. Jedes Mal auf’s Neue. Dankesehr.

    Nun die Frage:
    Heute hab ich Geburtstag und fühl mich so verlassen wie schon lange nicht mehr. Das liegt zum einen daran, dass vieles nicht so geklappt hat, wie ursprünglich erdacht. Zum anderen liegt der Grund im Verlassen worden sein selbst. Ein Liebeskummer gepaart mit einer tiefen menschlichen Enttäuschung. Ich meine nicht eine „tiefe menschliche Enttäuschung“, sondern so eine richtige, eine heftige, eine, die bis ins Mark erschüttert und im allertiefsten Innern verletzt. So sehr erschüttert, dass alle Lebensenergie aus dem Körper weicht und die Füße sich nicht mehr daran erinnern, wie es geht, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Die Treppe vom Hausflur scheint unter die unbezwingbaren 8000er gegangen zu sein und jede Stufe kostet die Kraft eines ganzen Tages.
    Die Trauer in der Warteschlange wird vom stählernen Türsteher „instinktiv einsetzender Selbstschutz“ eiskalt abgewiesen. Später. Viel später.
    Jetzt: Paralyse.
    Einzig und allein die Fassungslosigkeit schwebt groß, schwer und drückend in jedem Raum und lässt jedes aufmunternde Wort, jedes Mitgefühl ins leere Laufen.
    Weiterleben muss irgendwie gehen, nur ist noch nicht klar, wie.

    Nun weiß ich, dass Sie und die wundervolle Herzdame schon lange Ihrer beider Leben miteinander teilen und Sie deshalb nun vermutlich seit Längerem nicht liebeskummererprobt sind und doch die Frage:
    Haben Sie einen Text zu „so etwas“? Einen Text, der versteht und ohne trösten zu wollen leise tröstlich ist? Einen Text, der die Trümmer und Splitter nummeriert und kartiert?
    Oder wissen Sie vielleicht von jemandem, der*die etwas Geeignetes verfasst hat? Buch, Blog, Essay?
    Egal.
    Ich hätte nur in der Ratlosigkeit gern etwas an meiner Seite.

    Wieder leise grüßend
    Die zurückgezogene Räuberin

  2. Dann die besten Wünsche zum Geburtstag, es ist auch der von Sohn I. Als Buchhinhweis vielleicht nicht ganz, was erwartet wird, aber dennoch: Olaf Georg Klein, Tagebuchschreiben. Und dann auch die dort erwähnten Tagebücher nachlesen. Da wird vieles kartiert, sehr vieles sogar. Ich fand das in schwierigeren Zeiten hilfreich.

  3. Oh, dem kann ich mich nur voll und ganz anschließen: Wieder so schöne Erzählstücke und ein Kleinod, das Du uns gezaubert hast. Danke Max.

    Der Räuberin auch von mir die besten Wünsche. Möge der Himmel bald wieder blau strahlen, auch wenn noch Wölkchen ihn hin und wieder verdunkeln, oder es momentan eher nach Theodor Storm und der grauen Stadt am Meer für Dich sein mag.

    Spontan fiel mir das Buch „An Equal Music“ von Vikram Seth ein. Ein sehr trauriges Buch, das dennoch tröstlich ist. Ich las es in der Phase der Trennung kurz vor meiner geplanten Hochzeit. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Du die Erzählweise von Vikram magst. Ich las es im Original, von daher kann ich keine deutsche Übersetzung empfehlen. Pardon.

    Weil oben Murakami im Text vorkommt, eine zweite schöne Liebesgeschichte wenn auch ohne Happy End – und auf eine ganz andere Erzählweise interessant: „Naokos Lächeln“.

    Alles Gute!

  4. Meine Erfahrung mit Paralyse: Stillhalten, aushalten, vorbeigehen lassen. Nur das tun, wozu die Kraft gerade so reicht. Bei mir war das: Zwei Wochen im bleiben und Bücher lesen, die nicht die Gefahr bergen, mich runter zu ziehen oder gar das Thema zu berühren. Rat erteilen will ich nicht. Nur meine eigene Erfahrung zur Verfügung stellen. Darf angenommen werden, ist aber nicht nur dafür geschrieben.

    —–

    Was mich am Narrativ „Klimawandel“ stört: Hungerssteine sind seit 1417 dokumentiert, moderne Wetteraufzeichnung fängt erst um 1750 (circa) an. Strohtrockene Maispflanzen gab es vor vierzig Jahren ungefähr schon und sie waren viel normaler – weil sie quasi „gedroschen“ wurden, um Futter- und Saatmais zu gewinnen. Das Abernten noch grüner Maisfelder verbreitete sich erst sehr viel später auf den Feldern und im Bewusstsein; die ganze Pflanze zu Silage zu schreddern, um sie zu verfüttern oder Biogas zu erzeugen, das fand ich vor zwei, drei Jahrzehnten noch irritierend. In diesem Jahr war das grüne Zeug wahrscheinlich zum richtigen Zeitpunkt nicht gehaltvoll genug, da wurd’s teuer und verzweifelt bewässert, um wenigstens noch halbwegs Körner ernten zu können. Landwirtschaft kenn‘ ich auch nur vom Zugucken und Zuhören – und aus einem Jahresabo des „Landwirtschaftlichen Wochenblatts Westfalen-Lippe“, das ich mal hatte, weil ich wissen wollte, welche Themen heutige Landwirte beschäftigen und interessieren. Es war erhellend für mich.

    Ich denke ja, Klimawandel is‘ immer schon und war immer schon. Dass wir uns trotzdem ganz schön bremsen müssen, verdammt dolle, dass die Klärung der „Schuldfrage“ („Antroposophisches Zeitalter“, jaahaa!) nicht lösungsorientiert ist, das denke ich auch noch.
    Sorry. Schreiben Sie meine breiten Auslassungen meiner völligen Übermüdung zu.

  5. „Zwei Wochen im Bett bleiben“ meinte ich. Und statt „angenommen“ sollte es besser „genutzt“ heißen … schlaflose Nächte SIND Arschlöcher.

  6. Guten Morgen und vielen Dank allen für den (Buch-)Rat und das Mitgefühl. :‘-)
    Mit Sohn I einen Geburtstagzwilling zu haben ist besonders toll.

  7. Late to the party, aber ich rate zu „Fast ganz die Deine“ von Marcelle Sauvageot. Eine Franzoesin der Zwanziger Jahre (?) schreibt sich ihren Liebeskummer von der Seele.

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