Vor dem Hauptbahnhof hat jemand am Morgen einen Blumenstrauß fallengelassen oder wütend hingeworfen, eine kleine Szene gab es da vielleicht oder nur ein Versehen. Die ÖPNV-nutzenden oder fernreisenden Menschenhorden gehen jetzt den ganzen Tag darüber hinweg und treten die bunten Blüten, es war wohl ein großer und teurer Strauß mit etlichen Sorten, mit jedem Schritt etwas mehr in das dreckige Pflaster. Das Farbige wird langsam und von vielen über Stunden flächig ins Grau eingearbeitet, es sieht ein wenig nach Kunst aus und man kann es auch schön und deep finden, wie das Frische, Farbige und Sommerliche da allmählich ins Farblose und Dunkle zerrieben wird. Es ist ein Frühherbstmoment, ein vae victis, dem Sommer 22 nachgerufen.
Im Wetterbericht steht derweil noch einmal etwas von mir viel zu warmen 25 Grad in der nächsten Woche. Die Wohnung kühlt spät ab in diesem Jahr. In meiner fensterlosen Abstell- und Schreibkammer, tief im Gebäudekern, ist der Hochsommer gut verwahrt, noch wochenlang wird das so sein, mit einem T-Shirt ist man in dem Raum schon overdressed.
Ich gehe am Sonntag Brötchen kaufen, es sind die teuersten Brötchen meines Lebens. Bei manchen Produkten merkt man die Preissteigerung eben schneller und genauer. Ich habe, obwohl ich jeden Tag einkaufe, auch nicht jeden Gemüsepreis auf den Cent parat, aber den Preis von Brötchen, den weiß man doch. Und muss ihn jetzt neu lernen – oder künftig selber backen. Ich ziehe das jedenfalls in Erwägung. Nebenbei bemerkt: Einer der Bäcker hier macht jetzt morgens auch eine Stunde später auf, da stand ich vor verschlossener Tür. Der Personalmangel, die Kosten oder beides, es wirkt sich langsam sichtbarer aus.
Die Söhne sind währenddessen älter geworden, einer vorgestern, einer heute. Sie sind jetzt beide Teenager, das ist also wieder das Ende von etwas. Ein Anfang ist es auch und der Aspekt ist selbstverständlich viel wichtiger.
Ein Sohn packt seine Geschenke aufreizend langsam aus. Er löst das Tesa mit Hingabe ab und legt das Papier sorgfältig gefaltet beiseite: „Das kann man noch einmal verwenden.“ Ich grüße an dieser Stelle im Geiste meine längst weggestorbene Großelterngeneration und gedenke einiger ihrer Eigenschaften, die sie wohl unter Umgehung meines Jahrgangs erfolgreich an die Enkel vererbt hat. Es kommt eben alles wieder, wie in der Mode.
Wir fahren mit Söhnen und Gästen in ein Schwimmbad. In der Bahn wird noch das 9-Euro-Ticket beworben. Plakate aus der Vergangenheit hängen da.
Im Schwimmbad habe ich nichts zu tun, die Kinder sind groß, die machen alles alleine. Ich bin nur noch für den Eintritt zuständig, für die Pommes und fürs abschließende Durchzählen. Ich sehe längere Zeit einem Schwimmlehrer zu, der kleine Kinder unterrichtet, und mit welcher Hingabe er das macht. Ich bin nach einer Weile ganz begeistert, weil er seine Truppe von vielleicht 15 Kindern wirklich liebevoll betreut, er schafft es immer wieder, auf einzelne Ängste und Weigerungen einzugehen, und wie gut er das macht. Er findet bei jedem Kind den richtigen Tonfall. Sein Deutsch ist etwas gebrochen, aber er redet ohne Unterlass und befolgt dabei das von mir schon oft zitierte Prinzip meines ehemaligen Chefs: So lange reden, bis das Richtige dabei ist.
Er redet die Kinder ins Wasser und unter Wasser und wieder hinaus, er redet sie vom Startblock hinab und einige sogar vom Einer, er redet auch das Mädchen, das zuerst weint, und das hinterher sehr stolz ist, vom Beckenrand ins Wasser hinein. Er erklärt das Schwimmen und das Tauchen, er kommt selbst ins Becken und macht vor, er springt wunschgemäß mit einem Kind an der Hand und der Kleine strahlt. Er ist, das nehme ich mit, felsenfest überzeugt, dass die Kinder gleich alle können werden, was er ihnen beibringen möchte. Ich bin nach einer Weile sicher, dass das einen großen Teil des Erfolgs erklärt, er ist sich einfach durch und durch sicher, dass sie es alle gleich können werden und er strahlt das aus. Und wie glaubhaft er das ausstrahlt.
Ich erinnere mich an Lehrerinnen und Lehrer in meinen Schulen, die damals mit diesem verdrossenen Gesichtsausdruck „Sie werden es heute eh wieder nicht kapieren“ bei uns hereinkamen, ich erinnere mich viel zu gut. Immer wieder der Gedanke, meine Güte, was war das alles schlecht und schlimm damals, und wie hat sich das verändert. Ich bin beim Schwimmunterricht noch einfach reingeworfen worden, das fand niemand seltsam. Die Zeiten, sie waren so.
Der Schwimmlehrer von heute aber steht am Beckenrand und ruft: „Du kannst das, ich weiß doch, dass du das kannst, schwimmst du los!“ Und dann springen die Kinder ins Wasser und schwimmen. Ich hätte ab und zu gerne jemanden, der so am Wochenrand steht. Der mir das von da aus zuruft und der ganz sicher ist, dass ich auch die kommenden Tage schaffen werde, weil er doch weiß, ganz genau weiß, dass ich es können werde: „Schwimmst du los!“ Und dann tief einatmen und in den Montag springen.
Die Söhne und ihre Freunde schwimmen währenddessen irgendwo dahinten und wissen ganz gut, was sie können. Zumindest sieht es so aus.
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Ich lese Selja Ahava, Dinge, die vom Himmel fallen, und ich mag es. Deutsch, wie bei gefühlt allen neueren finnischen Büchern, von Stefan Moster. Es ist eine Geschichte über Unwahrscheinlichkeiten, in gewisser Weise passt sie in die Zeit, aber nur höchst indirekt. „Schmerzvoll und tröstlich“, so heißt es in einer Rezension, und das trifft es.
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Auf Twitter nehme ich das Wort „Normalitätssimulation“ zur Kenntnis, es kommt aus diesem Thread und es wird mir sicher im Gedächtnis bleiben.
Manchmal wird mir alles zu viel. Ich frage mich dann, ob wir nicht längst Kipppunkte überschritten haben. Und zwar die, ab denen unsere persönlichen & gesellschaftlichen Kräfte nicht mehr reichen.
Dazu heute einige Gedanken nach etwas Auszeit — in Form eines Video-Threads. (1/4) pic.twitter.com/UELcNcTGE5— Prof. Sebastian Seiffert (@sci_ffert) September 3, 2022
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Einmal mehr und immer wieder, was für ein Text. Danke. Und zusätzlich sehe ich meine sehr vermisste Oma vor mir und das vorsichtige Auspacken.
Guten Abend,
an den Schwimmunterricht habe ich nur schlechte Erinnerungen. Die Schwimmlehrerin in der Grundschule war ein Drache, gleichsam ein Wasserdrache im Badeanzug, wobei sie selbst nie mit Wasser in Berührung kam.
Am Gymnasium saßen wir die meiste Zeit bibbernd am Rand und hörten dem Lehrer in Badehose, der ebenfalls nie ins Wasser ging, zu, wenn er uns irgendwelche Bewegungsabläufe zu erklären versuchte.
Rückblickend ein Rätsel, warum ich heute überhaupt schwimmen kann.
Danke und herzliche Grüße
Carsten K.
Habe am gestrigen Montagmorgen nach der Lektüre Ihres fabelhaften Textes meinen Freundinnen „Schwimmst Du gut!“ vom Wochenrand zugerufen (naja: schriftlich) – das war, glaube ich, als Ermunterung eine sehr gute Idee und hat das Zeug ein Klassiker zu werden. Herzlichen Dank für Ihr Aufschreiben und Veröffentlichen. Ob Sie wohl nochmal ein Buch schreiben?
Herzliche Grüße aus dem Rheinland, Barbara
Auch von mir ein herzliches Dankeschön für diesen schönen Text!
Liebe Grüße von Madame Bix
„So lange reden, bis das Richtige dabei ist.“ merk ich mir