In Hamburg ist der Hafengeburtstag, wir flüchten also aufs Land, tief ins Binnenland, nach Nordostwestfalen, wo man kein Schlepperballett kennt. Die Herzdame hat ohnehin einen Termin im Heimatdorf, aber ich bin bei Großveranstaltungen tatsächlich gerne nicht in Hamburg. Es ist das erste Mal, dass Sohn I mit einer gewissen Selbstverständlichkeit nicht mitkommt, er hat einfach anderes vor. So ist das also mit den eigenen Wegen, so unaufgeregt und gelassen kann sich das ereignen und ist dann eben so. Man wird sich daran gewöhnen.
Ich gebe also ein kleines Vermögen für eine Tankfüllung aus und wir fahren durch Niedersachsen. Es ist fast schon Routine, dass wir dabei umgeleitet werden, durch wer weiß welche Gegenden. Irgendwann habe ich sicher auf diese Art das ganze Bundesland einmal durchfahren, jedes Fitzelchen Landstraße kennengelernt, alle Ortsschilder gesehen und jeden grottenhässlichen Kreissparkassenbau umkurvt. Zwischen zwei Dörfern, von denen ich noch nie gehört habe, wird das Tempo mit Schildern begrenzt, alle paar Meter kommt ein neuer Hinweis auf die schadhafte Fahrbahn. Das ist oft nur ein pflichtschuldiger Hinweis auf ein unauffälliges Löchlein im Asphalt, also früher war es das zumindest, diesmal aber ist es eine ernsthafte und besser zu beachtende Warnung vor einer schwer lädierten Buckelpiste, holperig, schadhaft, ungepflegt, und das hört gar nicht auf, noch ein Kilometer, noch einer, und dann noch viele. Ich kann mich an eine Zeit erinnern, denke ich in mir selbst unangenehmer Boomer-Manier, da war die Infrastruktur dieses Landes noch in Schuss, fast überall. Und wie viele andere arglosen Zeitgenossinnen habe ich das für selbstverständlich gehalten, was doch eine historische Ausnahme und im Weltvergleich auch ein eher rares Privileg war. Manches lernt man eben spät.
Noch einmal werde ich so eine Zeit jedenfalls nicht erleben, vermute ich, und finde es nicht einmal besonders tragisch, nur interessant. In den Medien geht es jetzt neben den ganzen anderen Krisen immer öfter um den als sicher angenommenen Wohlstandsverlustbei uns, aber ich merke, dass ich angesichts der Fülle von Krisen mittlerweile weniger zum Doom-Scrolling neige, eher zum Doom-Watching & -Writing. Alles aufschreiben, was auffällt, die Veränderungen, die Schäden, die Maßnahmen, die Hoffnungen auch, die Lichtblicke. Dieses Schreiben fällt am Ende einfach nur unter Bewältigungsstrategie, und warum auch nicht. In seinem Newsletter „Der siebte Tag“ fragt der Journalist Nils Minkmar gerade: „Was ist Deutschland für ein Land, wenn es nicht immer reicher wird?“ Ich halte das für eine wichtige Frage, eine sehr wichtige. Hier ein interessanter Artikel zum noch viel weiteren Zusammenhang, da wird es dann erst richtig spannend und ich wundere mich schon lange, wie wenig darauf herumgedacht wird und wie wenig hilfreiche Antworten es bisher gibt. Das Einmalige unseres Zeitalters, so wird es einmal in den Geschichtsbüchern stehen – ich bin mir da sogar ziemlich sicher – ist die vollkommene Visionslosigkeit. Egal. Zurück zur Infrastruktur, immer zuerst das, was man sieht.
Neulich etwa auch der Bahnhof in dieser einen Kleinstadt an der Küste – wie verfallen, wie ruinenhaft kann ein Bahnhof denn bloß sein. Wie kaputtgespart kann ein Gebäude noch stehen und wieso wachsen da riesige Büsche zwischen den Gleisen. Das alles denke ich mir so, während ich über diese Landstraße in Niedersachsen holpere, die man als Motorradfahrer vermutlich schon als Abenteuer begreifen muss.
Im Heimatdorf der Herzdame liegt bei ihren Eltern die Regionalzeitung auf dem Wohnzimmertisch, darin lese ich einen Bericht über eine Nachbarstadt, in der das Schwimmbad den Winter über komplett geschlossen bleiben wird. Aus Kostengründen, versteht sich. Neben der Zeitung der Brief eines Energieversorgers, darin ein krasser Preissprung, was sonst, niemand hat etwas anderes erwartet. Aber was macht das aus, was hat das für Folgen. Und wie ist es eigentlich in den Büros und wie wird das im November, Dezember, wer heizt wie, wie geht es wem damit, darüber spricht man nun. Und machen wir jetzt doch zum ersten Mal den Kamin an oder nicht. Wenn man ihn einmal anhatte, so sagt meine Schwiegermutter, und sie hat wie immer Recht, dann kann man ja ab sofort nicht mehr ohne.
Die Abwägungen also, das Hinfühlen: Wie kalt ist uns eigentlich? Und hilft Suppe? Es stellt sich heraus: Suppe hilft. Hat sie immer schon. Man kann das in Romanen und Geschichten nachlesen, die Bücher müssen gar nicht so alt sein.
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Und ich dachte, nur unsere Dorfstrasse verrottet. Wenn das überall so ist?
Das Städtchen war rechtzeitig klug, man hat die ganze Verwaltung, die Schulen und das Hallenbad auf Holzschnitzel umgestellt. So ist das kein Thema diesen Winter.
Wir leben ja immer noch gut. Wir können es uns immer noch leisten, Flüchtlinge aufzunehmen. Zu aller Erstaunen fanden sich Wohnungen und Arbeitsplätze ganz schnell für ganz viele. Das gibt mir Hoffnung, dass das Land das alles stemmen wird.
Hoffnung hilft. Und Suppe.