Einsetzender Regen in 26 Minuten

Ich sitze morgens am Schreibtisch, ich sehe aus dem Fenster, vor dem es zögerlich hell wird. Im Haus gegenüber ist ein Fenster erleuchtet, eines nur. Gelbes Licht, warm wirkt das, und das Fenster geht auf. Eine Frau mit Handtuchturban und in etwas lose Übergeworfenem, das sie vorne mit einer Hand zusammenhält. Sie zündet sich eine Zigarette an und sieht nach oben, in den eisenzaunfarbenen Frühhimmel, durch den Möwen elbwärts ziehen. Dann sieht sie zu mir, winkt kurz und selbstverständlich, ein Gruß in die Nachbarschaft. Ein Rauchwölkchen steigt ein Stockwerk höher, verweht. Auf meinem Smartphone der Wetterbericht, einsetzender Regen in 26 Minuten. Ich wechsele zu französischer Musik. Stets bemüht, Stimmungen zu halten, dranzubleiben. Ich höre Songs von Bastien Lallemant, den kannte ich nicht. Ich schreibe etwas.

Nach ein paar Songs sehe ich wieder aus dem Fenster, es regnet nicht, es sieht auch überhaupt nicht nach Regen aus. Ich sehe aufs Handy, der Regen kommt in 26 Minuten. Ich hänge fest oder die App hängt fest, vielleicht lange schon, wer kann das so schnell beurteilen. Jedenfalls wird alles langsamer und verharrt. Der nächste Song heißt Ralentissons, das kommt von ralentir, ich muss das nachschlagen, es heißt verlangsamen. Der Beispielsatz auf der Französischseite lautet: Je suis la seule à pouvoir ralentir Internet – ich bin die Einzige, die das Internet verlangsamen kann. Was für ein merkwürdiges Anwendungsbeispiel. Ich aber bin der Einzige, der die Wetter-App verlangsamen kann.

Ich schlage ein Buch auf, Mirko Bonné. Ich war doch wieder in der Bücherei, so ist das mit der Sucht. Gedichte sind es, der Band heißt „Wimpern und Asche“.

„Auf dem Parkplatz drüben, in der Mitte

Der frühen Stunde, lehnt sich eine Frau

Mit Wintersonnenbrille an ihren Wagen.

Sie raucht hastig, sie scheint zu warten.“

Ruhig auch mal Gedichte schreiben, denke ich, oder gleich ein Chanson, und ich halte mich dann nicht daran, selbstverständlich nicht.

Gegenüber klappt das Fenster zu und der Tag fängt an.

Später lese ich Hillary Mantel, ihre Erinnerungen: Von Geist und Geistern, Deutsch von Werner Löcher-Lawrence. Ein bemerkenswertes Buch, es beschäftigt mich intensiv und ich bin fasziniert davon, wie ernst sie ihr Kindheits-Ich nimmt und wie sehr sie ihm glaubt, auf eine eher unübliche Art, ich finde das sympathisch. Einfach mal überlegen, ob das Kindheits-Ich am Ende schlicht Recht gehabt hat. In allem. Und ja, die Geister gab es wirklich, natürlich gab es die.

Hier schreibt sie über die Schule:

Die Schule bedeutete eine ständige Einschnürung, das systematische Unterdrücken jedweder Spontaneität. Sie arbeitete mit Regeln, die nie artikuliert worden waren und die sich änderten, sobald man glaubte, sie begriffen zu haben. Vom ersten Tag in der ersten Klasse an war mir bewusst, dass ich dem, was ich dort vorfand, widerstehen musste. Wenn ich meine Klassenkameraden sah und sie ihr jodelndes „Guten Morgen Missis Simpson“ rufen hörte, fühlte ich mich wie unter Geistesgestörten, und die Lehrer, bösartig und dumm, waren ihre Wärter. Ich wusste, ich durfte ihnen nicht nachgeben. Ich durfte keine Fragen beantworten, auf die es offensichtlich keine Antwort gab oder die von den Wärtern nur zu ihrem eigenen Amüsement und als Zeitvertreib gestellt wurden. Ich durfte nicht akzeptieren, dass Dinge über meinen Verstand hinausgingen, nur weil sie es mir sagten: ich musste versuchen, diese Dinge zu verstehen. So kam es zu einem inneren Kampf, und es kostete mich Unmengen von Energie, die eigenen Gedanken intakt zu halten. Aber wenn ich diese Anstrengung nicht unternahm, würde ich ausgelöscht werden.“

Was für ein bewegender Absatz, nicht wahr, man fühlt die Verzweiflung, und wie man sie fühlt. Auch die Irritation über die jodelnden Geistesgestörten. Zu sehr fühlt man das vielleicht.

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Ich bringe meiner Mutter ein Buch vorbei. Sie hat sich die Haare schneiden lassen, es fiel erheblich kürzer als sonst, wofür es eine besondere Erklärung gibt. Die Friseuse hat ihr eindringlich dazu geraten, damit es etwas länger hält: „Nächste Woche wird bei uns der Preis verdoppelt.“

Ich überlege noch – gehe ich jetzt auch schnell zu meinem Friseur oder laufe ich aus Sparsamkeit demnächst einfach wieder im Lockdownlook herum, also in etwa wie der Mann aus den Bergen? Immer diese Entscheidungen. Na, so lange Haare wärmen ja auch etwas in kalten Zeiten. Aber dann immer die Angst, dass es jemand für einen Precht- oder Martensteinlook hält. Schlimm.

Ein Sohn holt sich ein Gebäckstück vom Portugiesen und ist irritiert: Der Preis ist zum dritten Mal in etwa sechs Wochen gestiegen. Anpassungen in 20-Cent-Schritten. Wir sehen nächste Woche wieder nach.

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Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel. Merci!

2 Kommentare

  1. Dieser Satz „Sie arbeitete mit Regeln, die nie artikuliert worden waren und die sich änderten, sobald man glaubte, sie begriffen zu haben.“ ist so ein ganz typischer Autismus-Marker. Alle scheinen diese unausgesprochenen Regeln zu kennen, nur man selbst nicht und sie sind auch logisch nicht in Gänze zu begreifen.

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