Freitag. Schneeregen am Morgen, ich löse das Problem, in dem ich mit dem Rücken zum Fenster arbeite. Ich sollte Seminare für gelingendes Leben geben, ich weiß.
Am Nachmittag ein Termin in Alsterdorf. Ich weiß nichts über Alsterdorf, das ist eine der Ecken dieser Stadt, von denen ich nur eben weiß, dass es sie gibt. Alle Menschen in Großstädten haben bei manchen Gebieten diese flüchtigen Stadtplankenntnisse, da haben sie nur mal die Stationsnamen auf dem S-Bahn-Plan gesehen oder davon gehört, dass da irgendwer wohnt oder dass da geschichtlich mal irgendwas war, mehr nicht. Ich finde die richtige Hausnummer in Alsterdorf nicht sofort, ich irre etwas herum, ich finde Alsterdorf daher doof. Habe ich das also auch geklärt. So sortiert sich im Leben nach und nach alles zurecht und irgendwann hat man doch noch ein fertiges Weltbild.
Nebenbei sehe und höre ich, dass an einem kleinen Marktplatz dort jemand Saxofon spielt, mit kräftigem Verstärker und zugespieltem Rhythmus aus der Dose: Feliz Navidad. Mein Termin dauert anderthalb Stunden, ab und zu höre ich dabei Fetzen der Musik durchs Fenster. Die Darbietung ist recht laut, die Umgebung hat hier viel davon, und jeder Fetzen der herangewehten Melodie ist zuverlässig ein Teil von Feliz Navidad. Nach dem Termin gehe ich noch einmal an dem Saxofonspieler vorbei und zurück zur Bahn. Er spielt immer weiter, und er spielt immer wieder und ausschließlich Feliz Navidad, in Endlosschleife. Die Marktbeschickerinnen neben ihm müssen nervlich mittlerweile etwas belastet sein, stelle ich mir vor. Der Musiker steht dabei seltsamerweise abseits in einer eher dunklen Ecke, es scheinen dort hinten nicht gerade viele Menschen an ihm vorbeizugehen. Aber er macht weiter, so wie wir alle immer weitermachen. Was soll man auch machen, nicht wahr, man macht, was man kann, und wenn es nur das eine Stück ist, und wenn man dabei auch am falschen Ort steht.
Feliz Navidad. José Feliciano hat das Lied damals in nur fünf Minuten komponiert, so lese ich, aber diese fünf Minuten ergaben bis heute zigtausend Stunden Spielzeit in Millionen von Fußgängerzonen und Milliarden von Wohnzimmern. Das ist wahrlich effizientes Arbeiten, da auch mal anerkennend nicken, wenn man es wieder hört. Was sicherlich demnächst der Fall sein wird.
Am Abend gehe ich noch einmal durch die Einkaufsmeilen zwischen Hauptbahnhof und Rathaus, ich brauche mehr Bewegung. Die Weihnachtsmärkte werden gerade aufgebaut und viele Stände sind sogar schon geöffnet, an einigen wird noch Deko zusammengeschraubt, in einige wird noch Ware eingeräumt. Wieder die gleichen Angebote wie immer, die Kochlöffel aus knorrigem Olivenholz oder was das ist, die bunten Leuchtsterne für die stimmungsvolle Adventszeit, die Wollhandschuhe, das Schmalzgebäck, die Wurst, es ist alles vollkommen überraschungsfrei. Der Glühwein ohne Schuss kostet in diesem Jahr 4,50 plus Pfand und schon stehen die ersten angeschickerten After-Work-Grüppchen aus den Großraumbüros in der City kichernd und rotbäckig an den Ständen und glühen für das Wochenende vor. The same procedure.
Die letzten noch verbleibenden großen Kaufhäuser schließen gerade. Obdachlose beziehen die windgeschützten Eingangsflächen, sie kommen mit vollen Einkaufswagen und viel Zeug für die Nacht. Eine alte Frau, der Kleidung nach osteuropäisch, richtet gerade Isomatten, Schlafsäcke und Decken für einen jüngeren Mann, vielleicht für ihren Sohn. Bewegungen, die alle Eltern überall auf der Welt für ihre Kinder machen, dieses Glattstreichen der Unterlagen, dieses einladende Aufklappen der oberen Decke, nur eben in einer fremden Stadt, nur eben draußen in einer winterlichen Nacht, nur ist das Kind längst erwachsen und schwer alkoholisiert. Aber sonst: The same procedure.
Im Hauptbahnhof gehe ich auf meinem Heimweg am Nachtzug nach Wien vorbei. Darin beziehen gerade Passagiere ihre Kabinen. Sie sitzen auf den Kanten der Betten und Liegen und sortieren Zeug aus Koffern. Eine junge Frau im Sitzabteil holt mit schnellen Bewegungen ihr Notebook heraus, klappt es auf dem Schoß auf und tippt entschlossen und konzentriert los, wie jemand, der sehr dringend eine Idee verwerten muss. Vielleicht schreibt sie mal eben ein Weihnachtslied, man weiß es nicht.
Der Zug fährt an, rollt los in die Dunkelheit, Richtung Wien. Und wissen Sie, wer dort wohnt, in Wien? José Feliciano. Er betreibt dort ein Kaffeehaus, sagt die Wikipedia.
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