Neues Buch: „Ich will nicht mehr höflich sein“, das Tagebuch aus der Wendezeit von Sarah Kirsch. Da gleich mal gründlich hineinvertieft. Ich bin ein großer Fan der Kirsch-Tagebücher und ihrer Kunst, sich ausdrücklich über etwas zu freuen, über Dinge, Gegenden, Menschen, Häuser, über das Alleinsein, über ihren Sohn, über die Musik oder die Natur. Das Buch besteht natürlich nicht nur aus Freude, es wird auch vieles nicht gemocht, versteht sich. Ich teile etwa ihre Aversion gegen Veranstaltungen und Betriebsamkeiten aller Art, zu denen sie keine rechte Lust hat, sie mag sich zu solchen Anlässen nicht mehr überwinden, sie möchte lieber nicht, da haben wir es wieder. Ich verstehe ihre Erleichterung, wenn dergleichen vorbei ist, zutiefst verstehe ich das. Oder die Freude darüber, bei etwas gar nicht erst mitgemacht zu haben. Hier eine bezeichnende Stelle, vom 21. Januar 1990:
„Aber ist es nicht wunderbar, daß wir gestern nicht nach Hamburg zu der Fete von Monika Maron fuhren? Daß ich nichts von mir weggab? Daß ich mich so behalten habe? Ganz für mich lieber bin? O ich bin so glücklich, daß ich ganz geblieben bin. Kein Stäubchen von meiner Schmetterlingsflügelhaut wurde abgestreift. Mit niemandem musste ich reden. Und besonders nicht über die SED und das Ländchen. Ich bin komplett, es muß nicht erst wieder was nachwaxen in aller Stille. Diesz begeistert mich sehr.
17 Uhr hätten wir wegfahren müssen. Da habe ich in meinem Zimmer Radio gehört, bin im Haus herumgegangen. Ich stak nicht im Elbtunnel fest, ich sah eine Schute auf der Eider fahren im schwarzen Wasser die gespiegelte noch. Ich saß in keinem fremden Wohnzimmer mit bekannten und fremden Leuten, ich mußte Uwe Kolbe nicht sehen, nicht mit ihm sprechen, ich mußte überhaupt nix. […] Ich musste keinen Wein der Verzweiflung trinken und auf die Menschheit grob fluchen.
Ich war in diesem Haus, ich sprach mit Hund Katzen Esel und die Nacht brach herein der Mond ging späterhin auf, ein Spänchen vom Mond und noch später ein paar Sterne. Ich ging zu meinem Kind ins spitze Zimmer, wo es mit seinem Kater nun war […] und dann ging ich einfach in mein Bett und dachte wieder, wie gut, daß ich nicht auf der Party bin, selbst bei vernünftigen Leuten macht mir dergleichen gar keinen Spaß. Ich las im Bett, strickte ein bißchen, ich sah auch noch fern, ach, wenn nix los ist, geht es mir gut. Was für ein schöner Abend! Der Wind ging ums Haus. Die Katze sprang aus dem Fenster. Ich telefonierte mit meiner Mutter. Alles war wunderbar. In Hamburg bei der Party hätte ich schon die ersten Leute bechimpft, die aussem Osten, ungewollt freilich, und das macht auch keine Freude. O dieses wunderbare mich umgebende beschützende Flachland mit diesem alten verständlichen Haus, die Rabenflügel darüber am Morgen am Abend, dem ungebrochenen Wind, den stillen Maulwurfshügeln.“
Politisch ist das Buch auch interessant, keine Frage, sicher doch, aber für mich ist das eher Nebensache. Mir geht es um ihr listig vom Leben ergaunertes Wohlbefinden. „Ich bin sehr glücklich, wenn nix Besondres geschieht. Immer.“ Tagebuch, 31.10.1989. Eine Lehrmeisterin.
Schönes Nachwort vom Sohn auch, Moritz Kirsch, den sie in den Kladden meist Moses nannte.
***
Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel. Merci!
Oh, ja. Ihre Tagebücher sind wunderbar.
Wusste gar nicht, dass ein neues rausgekommen ist.