Prophylaxe am offenen Fenster

Am Sonntagmorgen sehe ich noch einmal Schneeflocken vor dem Küchenfenster, einzelne nur, winzige Pünktchen in der Luft, weit versprengte Truppen des Winters. Im Holunder der Grünfink und einige Spatzen und Meisen, die haben etwas zu besprechen, über die Artgrenzen hinweg. Sie ereifern sich dabei, ich höre schnell eskalierendes Gezwitscher. Das kennt man auch online, aber in der Natur, ich habe es gerade irgendwo gelesen, soll es die zuhörenden Menschen signifikant beruhigen, den Blutdruck senken, geradezu Wunder bewirken. Ich höre also zehn Minuten den Vögeln zu, es ist sicher besser als gar keine Prophylaxe. Dann wird es mir entschieden zu kalt am offenen Fenster, die gefühlte Temperatur liegt unter null Grad. Es beruhigt vielleicht, aber man erkältet sich dabei, irgendwas ist eben immer.

Ich gehe Brötchen holen, ich gehe am öffentlichen Bücherschrank vorbei. Dort hat jemand einige Werke von Alice Schwarzer ausgesetzt, sie wird endgültig Sympathiepunkte verloren haben, sie muss jetzt aus einem Wohnzimmer raus. Nur ein paar Meter weiter eine Putin-Karikatur an einer Hauswand, die Nachrichtenlage ist hier manchmal recht präsent im Alltag. Im Schaufenster des Ladens für Deko und Geschenke steht weiterhin ein Wimpel, die Flagge der Ukraine. Würde man jedes Haus und jede Ecke fotografieren, man könnte in der Zukunft noch ableiten, aus welchem Jahr diese Aufnahmen sind, es wäre nur etwas Detektivarbeit nötig, die Spuren wären zu sichten, man würde die Aufgabe dann lösen können.

Manchmal postet jemand alte Fotos aus dem kleinen Bahnhofsviertel in der Stadtteilgruppe auf Facebook, dann entschlüsselt die Gemeinschaft dort die Jahre, in denen die Fotos entstanden sind. Zusammengetragene Erinnerungsfetzen, dieses Geschäft gab es bis 79, dieser Laden war vor dem anderen in dem Haus, dieser Kiosk gehörte der Tante einer Freundin der Mitschülerin, und die starb 87, also war es … Es liest sich immer so, als würden das die Leute mit einigem Engagement betreiben, alle begeistert sein, etwas zu wissen, sich an etwas erinnern zu können. Und immer sind einige überrascht, wie schnell man manche Läden doch vergessen hat. Ich merke das auch in der Innenstadt, in der der Leerstand im Moment unübersehbar ist, ich weiß bei einigen der großen Schaufenster schon nicht mehr, was im letzten Jahr noch darin war, was vor Corona dort war.

Es geht ihr nicht gut, der Innenstadt, man kann es kaum übersehen. Im Hauptbahnhof schließt gerade ein Schuhgeschäft, reduziert die Buchhandlung die Fläche drastisch. Das Gegenteil nehme ich viel seltener wahr, Neueröffnungen, Erweiterungen kommen kaum vor. Oder sie fallen mir nicht auf, denn es ist so eine Sache mit den Beobachtungen, auch wenn man stets bemüht ist.

Ich lese beim Frühstück etwas in Colette, „Eifersucht“ heißt der Roman, da streichelt die Hauptperson gerade die Hauptkatze und befreit ihr Fell dabei von Ulmenblütenstaub. Man liest schnell so drüber weg, aber ich weiß nicht, wie Ulmenblütenstaub aussieht. Ich weiß auch nicht, ob es hier irgendwo noch eine Ulme gibt, ich nehme aber an, dem ist nicht so, das Ulmensterben, da war doch was. Eine kleine Naturerwähnung nur, die ich nicht mehr korrekt ausdeuten kann. In dreißig, fünfzig Jahren werden Leserinnen und Leser vor noch wesentlich mehr Rätseln dieser Art stehen.

Später am Tag in den Garten, kurz nach der Kornelkirsche sehen. Sie blüht.

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2 Kommentare

  1. Keine Ausreden!
    Es gibt 4000 Ulmen in Hamburg.
    Alle katiert dank „Ulmenprogramm“.
    Blühzeit: Februar-April.
    https://galk.de/arbeitskreise/stadtbaeume/themenuebersicht/schaderreger-und-krankheiten-an-baeumen/hamburger-ulmenprogramm

    Die Colette-Doku war übrigens sehr schön. Vielen Dank für die Empfehlung.

    Und im Räuberinnenwald, kälter als im Stadtkern, waren die Schneeflocken riesig und in einem richtigen, tosenden Gestöber vereint.

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