Nachtviolen, Wiesenkerbel

Wo war ich in der Chronik, es war Samstagabend. Am Sonntagmorgen kann man im Heimatdorf sogar draußen frühstücken, das erste Mal gibt es eine Art Sommergefühl in diesem Jahr.

Im Garten der Schwiegermutter hängen die noch grünen Johannisbeeren in viel üppigeren Mengen als bei uns an den Büschen, hier ist wie immer alles etwas weiter, größer und grüner, denn so geht es zu im sonnigen Süden, so sieht es aus für unsere von Hamburg geprägte Wahrnehmung. Am Feldrand stehen Nachtviolen, die gut und interessant duften. Einen schönen Namen haben sie, diese Nachtviolen. Unter der Pergola vor dem Haus hubschraubert eine Hornisse mit faszinierend tiefem Brummen durch den Blauregen, in den Büschen daneben hundertfaches Bienensummen, ein natürliches Sedativum, beim zweiten Kaffee schon wieder müde werden. Aus dem Dorf weht beim Frühstück Sonntagskirchenglockenläuten zu uns heran. Im Garten angeregte Spatzendiskussionen, beleidigtes Elsterngeratsche, dazu Meisengetuschel, alles begleitet vom etwas einfallslos, aber dafür umso unentwegter plappernden Zilpzalp. Über uns Lerchen, die habe ich lange nicht mehr gehört. Und um uns herum der Duft von Frühjahrsblüten aus den Beeten. Hin und wieder ist auch eine herbe Rapsnote in der Luft, knapp vor unschön, es weht so durch und vergeht wieder.

Hinten hängt Wäsche auf der Leine, auch einer meiner Pullover ist dabei, gut riechend wie nie in der Stadt. Wissen Sie noch, vor mittlerweile etlichen Jahren, als es diese große Aufregung und all den Spott gab, weil ein Unternehmen in Berlin angeboten hat, die nasse Wäsche der Kundinnen auf dem Land an der frischen Luft in Brandenburg trocknen zu lassen? Die spinnen, die in der Hauptstadt, so hieß es damals. Es mag sein, dass die spinnen, aber gut riechende Wäsche hat was, keine Frage.

An allen Wegen ringsum blüht der Wiesenkerbel, weiße Sprengsel vor dem Grün des aufgeschossenen Getreides. Gerste, wenn ich es im Vorbeigehen richtig sehe. Wiesenkerbel kann man essen, man kann ihn aber auch prima mit Schierling verwechseln, lese ich auf dem Handy nach (Flora Incognita, keine bezahlte Werbung) und probiere dann lieber nicht. Lilafarbener Storchenschnabel steht zwischen den weißen Blüten des Kerbels, bunte Wicken auch, es ist hier alles ansprechend und geschmackvoll dekoriert, kilometerlang.

Ich gehe über die Landstraße und höre ein Sachbuch über Brecht, und über mir die Wolken, sie sind weiß und ungeheuer oben.

Ein Feldweg auf dem Land, im Hintergrund Bäume

Es ist pulloverwarm dabei. In der Sonne ist es zu heiß, im Schatten ist es zu kühl, man zieht sich an, man zieht sich aus. Im Dorf findet irgendeine Veranstaltung statt, Eltern bringen ihre Kinder zum Sportplatz und an der Anzahl und Quote der vorfahrenden Elektroautos sehe ich, dass ein Wandel stattfindet. Das immerhin auch nebenbei registrieren, es ist nämlich das erste Mal, das ich bei einer solchen Zufallsstichprobe denke: Ach guck, es gerät in Bewegung, es passiert tatsächlich, die Mehrheiten werden sich zuverlässig verschieben, bald schon. Warte, warte, nur ein Weilchen, dann kommt Elektro auch zu dir.

Eine aufgemalte Startlinie auf einer ländlichen Straße, man sieht das Wort "Start" auf dem Asphalt

Wenn ich auf diese Art weiterschreibe, wie ich es im Moment mache, fällt mir gerade auf, falle ich unweigerlich in der dargestellten Zeit weiter zurück und der jeweils beschriebene Tag wird mit der Zeit immer länger her sein, jedenfalls wenn ich an den so viel schlechter beschreibbaren Werktagen in Hamburg nicht wieder aufholen werde. Ich frage mich, ob mich das stört oder ob ich das sogar gut finde. Ich bin etwas unentschlossen, aber ich glaube, es ist nun so, wie es ist, denn das Blog bin ja ich, und ich bin gerade so. Langsam und zurückfallend, bremsend, besinnlich und gründlich sein wollend. Bird by bird beschreiben, wie es bei Anne Lamott hieß, das war ein gutes Buch über das Schreiben. Ich habe es vor vielen Jahren gelesen und kann mich natürlich kaum noch erinnern, fand es aber interessant, das immerhin ist hängengeblieben. Und die Geschichte, die damals bei ihr zum Titel des Buches führte, die habe ich auch noch parat. Es war eine familiär-anekdotische Abwandlung des chinesischen Satzes: Wenn Du es eilig hast, gehe langsam. Ein Satz, der zwar eine wandkalendertaugliche Weisheit, aber dennoch meiner Erfahrung nach tendenziell richtig ist.

Wobei ich im Langsamgehen so viel Erfahrung gar nicht habe, ich also über solche Weisheiten vielleicht lieber nicht urteilen sollte.

***

Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

2 Kommentare

  1. (Zitat)“““…..ich glaube, es ist nun so, wie es ist, denn das Blog bin ja ich, und ich bin gerade so. Langsam und zurückfallend, bremsend, besinnlich und gründlich sein wollend…..“““ (Zitatende)

    Ihr Blog ist gut so.. (vielleicht einer der besten Blogs im deutschsprachigen Raum) .. lassen Sie’s so..
    solange Sie zu Weihnachten nicht über … [obwohl…..]

    Danke für Ihre herausragend‘ grossartigen Posts !

  2. Ihre „Wanderungen durch Ostwestfalen“ werden hier ebenso gern gelesen wie die durch Hamburg, könnten ein digitaler Klassiker werden und nach meinem Geschmack gern irgendwann in einem Curriculum auftauchen. Bitte weiter textlich mäandern!

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert