Mittwoch, der 9. August. Gestern am Abend weiter im Briefwechsel Bachmann-Frisch gelesen. Ihren Briefen merkt man oft das Dichterische an, die Lust am Beschreiben und Schildern, am Erzeugen von Stimmungen, man liest auch großes Talent zweifelsfrei aus ihren Briefen heraus, meine ich jedenfalls, aus seinen dagegen nicht. Das sagt nichts über die Bücher der beiden aus, versteht sich, aber interessant ist es doch.
Es ist schon der dritte Werktag nach dem Urlaub, ein weiterer Sturm- und Herbsttag wird es, wieder gibt es die üblichen 12 Grad am Morgen, die hier in jeden Monat passen. Im immer noch frischen Wind wehen an einigen Fenstern im kleinen Bahnhofsviertel noch die Regenbogenflaggen vom CSD, im Kopfsteinpflaster sieht man hier und da auch noch eingetretene Reste vom Fest, Konfetti und Glitter, zerrissene Flyer, zerfetze Aufkleber mit Forderungen und Parolen. Ich bin nicht sicher, ob die Reihe der Großveranstaltungen für dieses Jahr nun durch ist, abgesehen von den Weihnachtsmärkten, aber ich denke schon.
Vor dem Hauptbahnhof geht eine ältere Frau hin und her, die nicht bei Sinnen ist und ebenso schrill wie laut nach ihrer Mutter ruft, aus Leibeskräften, immer wieder „Mama! Mama!“, man hört es sehr weit und mag sich nicht vorstellen, wie lange sie schon vergeblich nach der so sehr fehlenden Mutter schreien mag, Stunden, Tage oder sogar Jahre. Auf jedem Weg hier gibt es eine Begegnung mit dem Elend in irgendeiner Ausprägung, mit seelischem Elend, geistigem Elend, körperlichem Elend, sozialem Elend, und obwohl ich sonst nicht zur Relativierung neige – es geht mir doch gut, so vergleichsweise, es wird mir quasi stündlich neu bewiesen, ich muss nur einmal kurz vor die Tür gehen, ach was, ich muss nur den Kopf etwas drehen und aus dem Fenster sehen.
Während ich am Morgen eine Station mit der S-Bahn fahre, shuffelt mir der Streamingdienst den Titelsong von „Bilitis“ auf die Ohren, das sorgt für eine Erwartungshaltung, der die Mitreisenden an diesem Morgen kaum gerecht werden können. Niemand sieht hier nach der Besetzung eines David-Hamilton-Films aus und für Weichzeichnereffekte bin ich nicht müde genug, ich sehe viel zu klar.
„Besser zuhause!“ steht dann groß auf der Seitentür eines Lieferwagens, der während der ganzen Arbeitszeit direkt vor meinem Bürofenster parkt, das ist ein wenig gemein und leider auch inhaltlich überzeugend. Mit etwas Ach und Weh gearbeitet. Aber so geht ja in der ersten Woche nach dem Urlaub häufig zu, das ist nicht schlimm.
Mittags mit Kollegen auf dem Wochenmarkt Essen am Imbiss. Wir stehen im Regen und im Wind, wir frieren, es ist nach Beweislage eindeutig Oktober. „Das wird schon noch“, sagt die Imbissverkäuferin mit Blick zum Himmel, und sie sagt es in dem Tonfall, in dem auch die Strandkorbvermieter an der Küste an solchen Tagen mit ihren zögernden Kunden reden.
Auf den Wegen weiter den Fallada gehört, die Erzählungen, Lilly und ihr Sklave.
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In Österreich, so lese ich und bleibe bei dem Thema Tourismus einfach noch etwas dran, brechen die Buchungszahlen in Kärnten und in der Steiermark nach den Unwettern schon deutlich ein. In der Ticker-Meldung direkt darunter geht es dann um die vielen Erdrutsche in Norwegen, und das kann man sich mittlerweile vielleicht als eine Art Lotteriespiel vorstellen, welches Land oder welche Region da noch heil durchkommt und von der reiseplanenden Mehrheit als sicher fürs nächste Jahr betrachtet wird. Man könnte auf einer Landkarte markieren, was vermutlich wegfallen wird.
Währenddessen gibt es in Südtirol den ersten See, für den man vor dem Besuch ein Ticket buchen muss, außerdem darf man dort nur noch mit dem ÖPNV, per Rad oder zu Fuß anreisen: Italiens Kampf gegen den Massentourismus.
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Wir winken ferner Sixto Rodriguez, er hat gerade die Bühne verlassen. In meinen Playlists wird er bleiben.
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Das mit dem Wetter ist dann doch ein eher lokales Phanomen in den Bergen. Wir sind seit 5 Tagen in Kärnten, jede Wetterapp sagt für unsere Gewitter voraus. Doch die Sonne scheint seit 5 Tagen fröhlich und es ist warm. Es hat sogar Ladesäulen für CO2 freiw Fortbewegung auf der Langstrecke, sowie Busse und Boote für die Kurzstrecke.
Heute Abend regnet es zum ersten Mal wenig. Es bleibt kompliziert im Einzelfall.
Lieber Herr Buddenbohm,
vielen Dank für die morgendliche Betrachtung der Mitpendler mit Bilitis- und Hamiltongedanken.
Ich habe mich sehr daran gefreut. Vielleicht wird damit das Pendeln besser (wenn ich in mich reingrinse und denke „nicht nur in Hamburg, Herr Buddenbohm, auch in Stuttgart“).
Liebe Grüße
Eva