Maimorgenszenario

Am Mittwoch sehe ich gleich nach dem Aufstehen aus dem Fenster und runter auf den Spielplatz, auf das noch ruhende, regennasse Maimorgenzenario vor der Haustür, in dem nur das Rotkehlchen und der Wind als verlässliche Aktivposten vorkommen. Im Holunder unter mir schlafen die drei Ringeltauben mit dem komplizierten Liebesleben. Sie sitzen mit geschlossenen Augen tief zwischen den großen, weißen Blütenkissen des Busches, sie sehen überaus flauschig eingebettet aus, auf die angenehmste Weise. Sie verbringen die Nächte im Frühjahr zwischen blühenden Plumeaus.

Eine macht ein Auge auf und sieht zu mir hoch. Wer wohl da so irre früh schon am Fenster herumturnt, wird sie sich fragen. Immer lächeln und winken, denke ich mir, aber ihr Auge geht da schon wieder zu. Es ist noch zu früh, für fast alle Arten hier. Da kann man noch nicht auf einer Kontaktaufnahme bestehen, ich verstehe das. Und ich mache das Fenster wieder zu und trinke meinen Kaffee weiter.

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Ich habe die Kafka-Biografie komplett durchgelesen. Alle drei dicken Bände, wie ich streberhaft ergänzen möchte, als gäbe es ein Fleiß-Sternchen dafür. Von denen ich in der Schule allerdings nie, nie eines bekommen habe, wie mit Restbitternis anzumerken ist. In meiner Erinnerung gab es diese Sternchen ausschließlich für Mädchen, seelische Schäden, wohin man nur sieht und denkt. Allerdings kann es auch sein, dass ich einfach nicht fleißig war. Egal.

Wo jedenfalls gerade alle wieder von Nazis reden: Es gelingt Reiner Stach in dem außerordentlich umfangreichen Werk, den kurzen Epilog, in dem aufgezählt wird, wer alles aus Kafkas Welt in der Zeit des Dritten Reichs, wenige Jahre nach seinem frühen Tod, vertrieben und/oder ermordet wurde, ausgesprochen schockierend wirken zu lassen. Also frisch schockierend, meine ich. Obwohl man das alles längst weiß, gründlich weiß und tausendmal gelesen hat etc. Nichts daran kann einen überraschen, gar nichts.

Das Kafka-Universum wird in den Büchern aber dermaßen lebendig dargestellt, dass diese Tode und Schicksale im Anschluss umso stärker und heftiger wirken, in diesen fast lapidaren, trockenen Erwähnungen auf den letzten paar Seiten der so langen Buchstrecke. Und das Zusammenbrechen der Welt, der Familien, der Zivilisation und der Kultur in jener Zeit wird noch einmal deutlicher.

Man verträgt nach diesen letzten Seiten allerdings die aktuelle Nachrichtenlage umso weniger. Die Kombination ist doch allzu entsetzlich.

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