Ich lese abends weiter im erfreulich dicken „Tagebuch mit Menschen“ von Georg Stefan Troller, seine Einträge aus den Sechzigern, in denen er oft auch recht giftige Bemerkungen über andere notiert. Das Buch läuft nicht gerade über vor Wohlwollen, aber das nur am Rande.
Mir wird jedenfalls erneut bewusst, wie in diesem Jahrzehnt, in dem ich auf die Welt kam, die Trümmer des Zweiten Weltkriegs im realen und im übertragenen Sinne noch das Leben prägten. Die Kultur auch. Er trifft für seine Interviews so viele Überlebende, halb oder ganz Vergessene, Versehrte, Verirrte, Wiedergefundene und Zurückgekehrte. Es lohnt sich, das nachzulesen, es erweitert mein Bild dieses Jahrzehnts.
Wie präsent das große Grauen damals noch war. Fast nichts davon habe ich in meiner Kindheit bemerkt, abgesehen vielleicht von der Grundangst der Erwachsenen um mich herum, die Russen könnten doch noch kommen. Und diesmal dann bis Lübeck und noch weit darüber hinaus. Diese Vorstellung wurde oft deutlich.
Bei Gewittergrollen und ähnlichen Geräuschen immer der Satz: „Die Russen kommen.“ Ein Satz, den wir Kinder übernommen haben. Normaler Sprachgebrauch war das, und als Kind habe ich selbstverständlich nie bedacht, welche Inhalte aus früherem Erleben viele Erwachsenen damit verbunden haben müssen.
Es hört nicht auf, dass ich mich darüber wundern kann, wie wenig die geschichtliche Vergangenheit in meiner eigenen Vergangenheit stattfand. Und wie spät ich dieses generalisierte Schweigen über die Geschichte erst als solches wahrgenommen und verstanden habe. Wenn es interessiert, bei Radiowissen gibt es passend dazu auch eine hörenswerte Folge über das kollektive Gedächtnis.
Ich lerne bei der Lektüre auch etwas darüber, wie diese Interviews damals für das Fernsehen inszeniert wurden, mit welchen Tricks manchmal gearbeitet wurde. Vielleicht erinnern Sie sich noch, ich hatte hier vor längerer Zeit einmal einen Clip im Blog, in dem der Schriftsteller Somerset Maugham Verse von Goethe zitierte, auf Deutsch:
„Alles geben die Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz,
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.“
Ich wusste damals vermutlich nicht, dass es ein Ausschnitt aus einem Troller-Interview war.
Hier kommt gleich mehr dazu im Video. Bei den Aufnahmen zu Beginn ist Troller neunzig Jahre alt, während er über den damals neunzigjährigen Somerset Maugham spricht, das ist dabei bitte auch zu beachten. Alte Männer sind ja gerade hier und da Thema auch in den Nachrichten.
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im frühjahr 2022 lief ich durch die innnenstadt von den haag. in den restaurants war wenig los, die mitarbeiterinnen standen vor der tür in der frühjahrssonne. in der nähe kreischten feiernde frauen. da sagt ein italienischer koch zu mir: „i russi vengono.“ und als ich überrascht kuckte, fuhr er weiter: „no capisce, no? no.“ schloss er resigniert.