Zunächst uneinsichtig

Ein kleiner Nachtrag fällt mir noch ein. Da geht es um die Wiederankunft der Herzdame aus Berlin neulich, ich berichtete von dem besonders heißen Tag. Der dann auch noch global Hitzerekorde brach, es passte wieder alles zusammen. In dem Beitrag erwähnte ich auch das Chaos im Bahnverkehr. All diese Verspätungen, Verschiebungen, Gleisänderungen, Ausfälle etc. All die verwirrten und teils verzweifelten Reisenden, das Gedränge und Geschiebe im Bahnhof.

(Christian hat drüben meine hier oft geschilderte Einschätzung der stets rappelvollen Bahnhofssituation gerade freundlich bestätigt, das ist auch einmal nett.)

Die Komplikationen lagen an diesem Tag zu einem erheblichen Teil auch wieder an Personen im Gleisbereich. Also an unbefugten Personen, es wurde immer wieder so durchgesagt. Bei früheren Gelegenheiten hörte ich auch die Formulierung „bahnfremde Personen“, was angenehm altmodisch amtsdeutsch klang. Bahnfremd als zulässige Abwertung.

Das ist jedenfalls ein Umstand, der etwas rätselhaft anmutet. Denn eindeutig gibt es doch eine Steigerung in der Häufigkeit dieser Vorkommnisse in den letzten Jahren. Zumindest leite ich das aus der mir bekannten Stichprobe ab. Die Herzdame und ich hatten solche Vorfälle auf sämtlichen Bahnfahrten in letzter Zeit und dauernd wird davon berichtet. Gestern etwa habe ich es zweimal in den sozialen Medien gesehen.

Ich kann es mir nicht vollkommen plausibel zusammenreinen, warum neuerdings dauernd irgendwelche Menschen auf Schienen herumlatschen und es früher deutlich weniger gemacht haben. Es gab einmal, und so lange ist es gar nicht her, ein paar Jahre nur, vielleicht eine Pandemie, eine allgemeine Übereinkunft, dass so etwas eher keine gute Idee sein kann. Auf den ersten Blick ist es ein Rätsel der Gegenwart.

Vor ein paar Tagen habe ich aber irgendwo noch eine Meldung dazu gesehen. Es war eine norddeutsche Lokalmeldung, glaube ich, dass da jemand telefonierend auf einem Gleis stand. Dass diese Person damit Züge aufhielt und sich, als Sicherheitskräfte versuchten, sie dort zu entfernen, „zunächst uneinsichtig“ zeigte. Womit wir also mit ziemlicher Sicherheit wieder bei Freiheit, Freiheit sind, nicht wahr. Ich kann hier machen, was immer ich will, eine Art Karen Langstrumpf. Vermutlich war das Telefonat einfach noch nicht beendet.

Wobei mir auffiel, dass „zunächst uneinsichtig“ bei genauerer Betrachtung eine treffende Beschreibung unserer Gesellschaft geworden ist. Es wäre auch ein hervorragender Buchtitel für eine umfassende, tiefschürfende, schwartendicke und Hartmut-Rosa-mäßige soziologische Erklärung des postpandemischen kollektiven Zustandes, möchte ich meinen: „Zunächst uneinsichtig – die Entwicklung der Gesellschaft seit 2020“.

Und es ist, jetzt der trostreiche Abschluss, ein Begriff, der, wenn man es besonders dringend so sehen möchte und auch immer noch über die Fähigkeit zum wenigstens zaghaften Optimismus verfügt, immerhin einen Rest Hoffnung in dem Wort „zunächst“ beinhaltet.

Da mal dran klammern.

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3 Kommentare

  1. Das Phänomen ist mir auch schon aufgefallen.
    Ich fürchte allerdings, dass diese steigende Häufigkeit von „Personen im Gleis“-Ansagen dazu dient, dass die Bahn weniger Entschädigung zahlen will – sie muss nur noch, wenn sie selbst schuld ist. Und wer kann das schon überprüfen?

    https://www.manager-magazin.de/unternehmen/zug-mit-verspaetung-bahn-zahlt-wegen-eu-verordnung-keine-entschaedigung-bei-eingriff-dritter-a-ca96d8c9-9a35-436a-8249-b41152d3dd39

  2. Ich lese gerade (wie jeden Morgen) die Zeitung „Le Monde“ und stelle fest – auch in Frankreich sind heute „“bahnfremde Personen““ am Werk…allerdings DAUERHAFT „Uneinsichtige“……

    „““….Le trafic des trains à grande vitesse (TGV) est très fortement perturbé, vendredi 26 juillet, après une succession d’actes de malveillance, signale la SNCF, qui évoque « une attaque massive pour paralyser le réseau ». Ces actes de malveillance ont concerné les liaisons entre Paris et l’Ouest, le Nord et l’Est……““

  3. Leider gibt es viel zu häufig diesen Grund für das „Phänomen“:
    -siehe Wikipedia zu „Schienensuizid“

    Wenn man sich Statistiken dazu ansieht und liest welche Folgen das u. a. für Lokführer hat, ist leicht nachzuvollziehen, dass jede Sichtung von unbefugten Personen im Gleisbereich ernst genommen wird.

    Herzliche Grüße
    Nelia

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