Alles durchziehen

Die Herzdame und ich machen dann den Fehler, im Zug nach München eine Mail an uns zu lesen. Eine Mail, die stark stimmungsverderbend und vom Timing her so ungünstig wie nur denkbar ist.

Es reicht nämlich nicht, die beruflichen Mails zu ignorieren. Man müsste eigentlich alle Mails, Meldungen und Mitteilungen auf sämtlichen Kanälen komplett ausblenden. Etwa so, wie man es früher im Urlaubsfall getan hat, schon weil es gar nicht anders ging. Im letzten Jahrhundert noch, als man auf seiner Liege unter dem Sonnenschirm höchstens durch Telegramme gestört wurde, und dann war so etwas von Weltuntergang. Dergleichen kam aber ohnehin nur in Romanen und Filmen vor.

Auch alle Nachrichten zu privaten Themen müsste man für eine Weile sämtlich unterbinden, besonders die zu den eher unangenehmen Bereichen, wovon es sicher bei allen Menschen welche gibt. Rechts- und Finanzfragen, Konflikte, Klärungen und sonstige dunkelgraue Problemzonen der Familienbewirtschaftung. Die ganzen Gräuel der Administration des eigenen Daseins – ich werde nie aufhören, über ihre Ausmaße zu staunen.

Aber gut, gelesen ist gelesen. Wir sitzen danach glühend vor Zorn und mit unangenehm beschleunigtem Puls zwischen Göttingen und Augsburg. Wie viele Reisekilometer weit so ein Ärgernis reichen kann! Quer durch ein ganzes Land. Zur fachgerechten Beantwortung dieser Mail müssten wir mehrere Stunden oder gleich einen Tag investieren und am besten vorher noch schnell eine Schreitherapie machen.

Das schließen wir erst einmal aus. Wir haben immerhin Urlaub, und so oft hat man den nicht. Sparwillige Menschen wie ich überschlagen in solchen Situationen auch gerne kurz den Wert eines Reisetages, den man auf diese Weise vergeigt. Und stellt fest, dass man sich das gar nicht leisten will. Bin ich Krösus oder was, eine solche Verschwendung.

Ein größeres Problem tatsächlich und gelingend geistig so auszublenden, dass man in zumindest halber Seelenruhe annähernd entspannt Ferien machen kann, es scheint mir eine doch hohe Kunst zu sein. Und Experten sind wir darin nicht, so viel steht auch fest.

Schon die nächste Mail (ich lerne nicht so schnell aus Fehlern, q.e.d.) ist dann allerdings eine Projektanfrage an mich, eine recht erfreuliche, es ist ein Ausgleichstreffer des Schicksals. Sportliche Vergleiche aller Art liegen in der Luft in diesen Wochen, nicht wahr.

Nebenbei sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Olympia zwar groß und wichtig und global ist, im Norden aber gerade die Meisterschaft im Schlickrutschen entschieden wurde.

Wir kommen jedenfalls auf die Minute pünktlich in München an, die Deutsche Bahn kann es noch hier und da.

In dieser zusammengezimmert wirkenden und nur von Gerüsten aufrechtgehaltenen Bahnhofsattrappe kommen wir an, die wohl erst in Jahren wieder ein funktionales Stück Infrastruktur darstellen wird. Vielleicht zu dem Zeitpunkt, an dem in Hamburg endlich der große, der seit Ewigkeiten diskutierte und stets doch vollkommen ungewiss bleibende, fast sagenhafte Bahnhofsumbau losgehen wird. Ein großer Nordsüdtausch der Riesenbaustellen könnte es werden. Ich notierte es so bereits bei der letzten Reise, schwant mir.

Das Leben als Abfolge von sich ähnelnden Textpassagen und Erzählspiralen.

Bezüglich Hitze und Verelendung können wir uns in München dann auch gleich wie zuhause fühlen. Es ist entschieden zu warm in dieser Stadt und die an der Gesellschaft oder an sich selbst gründlich gescheiterten Menschen sind unübersehbar zahlreich und elend, wie sie es überall an den großen Stationen sind. All die Hände, die sich uns bittend entgegenstrecken.

Wir ziehen Koffer und Kinder zu Fuß zum Hotel.

Nein, in Wahrheit ziehen die Kinder die Koffer. Sie sind nun immerhin Teenager der ausgeprägt großen und starken Sorte, sie können das. Eine halbe Stunde Weg ist es nur, und wir brauchen dringend Bewegung nach der langen Fahrt, denken wir uns. Nach 15 Minuten zweifeln wir allerdings temperaturbedingt und schon wieder hitzederangiert an dieser uns auf einmal seltsam abwegig vorkommenden Idee. Aber nun ist es zu spät.

Alles durchziehen. Die Wege, die Abenteuer, den Urlaub, die Woche und den Sommer.

Exakt beim Betreten des Hotels poppt auf meinem Handy prompt eine Hochwasserwarnung für München auf. Der erste Mensch, der uns im Treppenhaus begegnet, grüßt uns mit einem vertraut knappen „Moin.“ Es bleibt alles noch einen Moment erstaunlich heimatlich und fühlt sich ausgesprochen norddeutsch an.

Bis wir nach einer kurzen Rast wieder vor die Tür gehen. Wo auf einmal alle Tracht tragen und es gründlich München geworden ist.

Die Türme der Theatinerkirche in München

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6 Kommentare

  1. Habe mich beim Lesen daran erinnert, daß man im letzten Jahrhundert im Urlaub nicht nur per Telegramm sondern – falls man im Auto unterwegs war – per Reiseruf erreicht werden konnte. Die jüngere Generation weiß wahrscheinlich gar nicht mehr, was das ist. Radiosender mit großer Reichweite hatten in der Urlaubszeit spezielle Sendungen, durch die Menschen gesucht wurden, bei denen zuhause ein Notfall eingetreten ist – im Stil von „Günter Müller aus München unterwegs mit einem dunkelblauen Toyota zwischen Florenz und Rimini (mit dem Kennzeichen M – …) wird gebeten, sich bei seinem Bruder zu melden .

  2. Zur Meisterschaft im Schlickrutschen passt die Weltmeisterschaft im Kirschkernweitspucken in Düren. Sie wurde wegen Regens auf das nächste Wochenende verschoben

  3. N. Aunyn
    Wurden diese Reiserufe nicht immer am Ende der Verkehrsmeldungen durchgegeben? „Und nun noch ein Reiseruf…“, und dann ziemlich genau so ein Text, wie Sie ihn hier kolportieren.

    Auf jeden Fall haben Sie bei mir einen angenehmen Flashback in alte Zeiten ausgelöst. Danke dafür!

  4. @Hamburger: Jep, diese Reiserufe kamen immer am Ende der Meldungen. So nach dem Beispiel: „Hier ist der HR3 Verkehrsservice, im Anschluss mit einem ADAC Reiseruf.“

    Ich glaube mal gelesen zu haben, dass der Grund für die meisten Rückrufe eher weniger erfreulich war.

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