Vergoren und Verdorben

Der erste Arbeitstag nach dem Sommerurlaub, ich starte gleich mit Office-Office. Ich verlasse dafür früh, allein und leise die Wohnung, der Rest der Bande hat noch frei. Man schläft hier in allen Zimmern weiter, vermutlich lang und vom Werktag vollkommen unbelastet, selig im Ferialmodus. Nur ich ziehe hinaus in die weiterhin übermäßig erwärmte Stadt, die bei diesem Wetter an zu vielen Stellen riecht, als sei etwas abgelaufen, vergoren und verdorben, auf jeden Fall aber zu lange ungelüftet.

Zwischen unserer Wohnung und dem Bahnhof liegt ein Obdachloser vor einem Geschäft. Auf Pappe und zerschlissenen Gepäckstücken liegt er, die er sich als Kissen unter den Kopf geschoben hat. Über sich hat er gegen den gewittrigen Regen der Nacht oder auch schon gegen die nachfolgende Sonne einen beschädigten Regenschirm aufgespannt. Er hält ein Handy, auf dem er etwas liest. Er liegt in etwa gleicher Position wie der arme Poet von Spitzweg auf dem berühmten Gemälde. Der Vergleich drängt sich sofort auf. Ein modernes, sozialkritisches Pendant ist er.

Wenn man ihn so fotografieren würde, wie er jetzt da lagert, würde die Ähnlichkeit vermutlich vielen Betrachtenden auffallen. Jedenfalls dann, wenn sie in ihrem Leben ausreichend oft mit dem so bekannten Werk von Spitzweg als Postkarte oder Poster konfrontiert worden sind. Also zumindest den meisten in meiner Generation und im Alter darüber würde das auffallen.

Aus dem Wikipedia-Eintrag zum Armen Poeten: „Die ersten Kritiken für den armen Poeten waren so schlecht, dass Spitzweg seine Bilder fortan nicht mehr mit seinem Namen, sondern lediglich mit seinem Monogramm, einem stilisierten Spitzweck (einem rautenförmigen Brötchen) signierte.

Ich mische mich unter das lustlose, zu dieser Stunde schon schwitzende Pendelvolk am Hauptbahnhof. Nach kurzer Fahrt in der urlaubszeitmäßig kaum gefüllten S-Bahn sehe ich good old Hammerbrook wieder. Dort sammele ich auf dem Weg ins Büro noch eben einige frische Fotos ein, damit Sie in den nächsten Tagen auch etwas von diesem etwas speziellen Stadtteil haben.

Dann die Arbeit. Wir legen uns das Herbstprogramm zurecht und nehmen Anlauf, viel Anlauf. Es ist immerhin gleich September. Es gibt ein buntes Programm, es wird viel passieren, man summt es so vor sich hin.

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Im Bild heute der Mittelkanal in Hammerbrook. Das Ufer links trägt den Namen Vera-Brittain-Ufer, und den Namen dieser Dame haben Sie vermutlich noch nie gehört. Auch zu ihr kann man einen interessanten Lebenslauf nachlesen und ist dann schon wieder knietief in der deutschen und europäischen Geschichte.

Das bebaute Ufer des Mittelkanals in Hammerbrook, grüne Bäume vor Bürohäusern

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2 Kommentare

  1. Vera Brittain, Vermächtnis einer Jugend, empfehle ich sehr und wage zu behaupten, das ist genau Ihre Kragenweite. Laut meinem Blog habe ich diesen und den Folgeband vor fast 20 Jahren gelesen und beide erstaunlich detailliert im Gedächtnis.

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