Stadtgeschichten und Adressen-Memory

Am Wochenende haben die Herzdame und ich zeitgleich eine Spaziergangsneigung, das kommt nicht oft vor. Wir sind bezogen auf unsere Tagesrhythmen meist eher nicht im gleichen Takt und leben vieles zu verschiedenen Uhrzeiten aus.

Wir haben allerdings beide, eine eher privilegierte Sichtweise, an diesem Tag keine Lust auf die üblichen Postkartenlocations vor unserer Haustür. Außenalster, Rathausarkaden oder Elbe, immer die gleichen Motive, wir wollen heute etwas anderes. Alles Bekannte haben wir längst totgeknipst, abgefilmt und endlos oft umrundet. So kann man auch nur denken, wenn man mitten im Bildteil der Reiseführer wohnt.

Wir fahren stattdessen nach Altona und gehen vom Bahnhof aus durch Ottensen, dort waren wir beide schon länger nicht mehr. Wir finden überraschend viele Nebenstraßen, Ecken und kleine Plätze, die wir beide nicht kennen oder an die wir uns nicht deutlich erinnern können. Ausreichend Anblicke dieser Art jedenfalls für dieses ansatzweise touristische Gefühl, das einen Spaziergang in der eigenen Stadt interessant macht und ihn ungeplant ausdehnt.

Ab und zu auch Gebäude oder Kreuzungen, vor oder an denen uns Termine und Szenen aus der Vergangenheit einfallen. Was war hier noch einmal, das kommt mir seltsam bekannt vor. Aber warum eigentlich. Zehn Jahre her, zwanzig Jahre her, dreißig Jahre her. Schon längst nicht mehr wahr, vergessen, verschüttet oder verdrängt. Wie lange wohne ich in Hamburg – 37 Jahre sind es jetzt, guck an. Wie viele Straßen dieser Stadt ich bis heute nie gesehen habe, es bleibt ein faszinierender Gedanke.

Vier Quietscheentchen über einer Haustür in Ottensen, in einem giebeligen Dekoelement der Fassade abgestellt

Weißt du noch, die Tanzkurse damals, unsere ersten Versuche. Hier um diesen Block herum haben wir abends immer einen Parkplatz gesucht. Noch mit dem alten Benz, den wir geerbt hatten. In dem musste man die Fenster noch hoch- und runterkurbeln. Für die Söhne ist das sicher schon unvorstellbar, knapp nach der Kutschenzeit muss das alles gewesen sein. Doch wo diese Kurse damals genau waren, darauf kommen wir beide nicht mehr, es sieht alles nicht richtig aus.

Vielleicht gibt es das Haus längst nicht mehr. In Hamburg ist das häufig eine zutreffende Erklärung.

Dort an dem Platz einmal ein Date gehabt, mit wie hieß die noch. Dahin einmal jemanden umgezogen, aber da wohnt der auch schon lange nicht mehr.

Am Wegesrand, der in den kleinen Straßen unerwartet oft begrünt ist, teils sogar erfreulich dschungelhaft, wie es bei uns im kleinen Bahnhofsviertel in diesem üppigen Ausmaß gar nicht vorkommt, sehen wir etliche spätsommerliche Stockrosen auf Halbmast. Die Blüten so schwer und groß, sie sind in den letzten Wochen untragbar geworden.

Wir gehen durch Straßen, da ist an jedem zweiten Haus das Schild einer Heilpraktikerin, einer Therapeutin oder das von jemandem mit einem verwandten, irgendwie sorgenden Beruf (es ist, haha, ein Spektrum). So viele sind es, ich denke unwillkürlich an Asterix und den Arvernerschild, an die zahllosen Läden der Wein- und Kohlehändler in diesem Comic. Ein Name auf einem dieser Praxisschilder, nur aus dem Augenwinkel gesehen – das könnte eine ehemalige Mitschülerin von mir sein.

Stadtgeschichten, immer noch eine und noch eine. Adressen-Memory und Erinnerungsschnipsel.

Unterhaltsam ist das. Zu je 20000 Schritten kommen wir wie nebenbei, und gehen dann noch durch das Kleingedruckte des Stadtplans bis zur U-Bahn St. Pauli, und wir fühlen uns solcherart ausreichend getummelt für einen Wochenendtag ohne weiteres Programm.

Demnächst vielleicht gemeinsam nach Eimsbüttel. Oder so.

Street-Art, ein an eine Wand geklebter Teller mit der Aufschrift "Randale und Liebe", am Rand fehlt ein Stück

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7 Kommentare

  1. Nett, die Beschreibung. Ich würde den Alternativtext für das Foto mit Quitscheentchen-Portikus noch mal prüfen. Sonst bleiben Zweifel an bisherigen Berufszuschreibungen des geschätzten Berichterstatters 😉

  2. Hamburg hat 8.600 Straßen, die insgesamt rund 4.000 Kilometer lang sind. Die könnten sie sich bei den nun vorgelegten rund 20 Kilometern pro Wochenende in etwa vier Jahren alle mal anschauen.

    Die kürzeste Hamburger Straße ist übrigens der Eulenkampweg mit seinen ca. 15 Metern und nicht die Herbertstraße (50 Meter?), auch wenn man das hier und da liest – bei solchen Fehleinschätzungen schlägt wohl der Promibonus zu.

  3. „Stadtgeschichten“ von Armistead Maupin las ich in den 70er Jahren, die spielten sich jedoch in San Francisco in einer besonderen Community ab. Die hatten mir sehr gut gefallen und kamen mir beim Lesen Ihrer Überschrift sofort wieder in den Sinn.
    Wahrscheinlich hat jeder so seine eigenen Stadt- oder Landgeschichten.
    Ich ganz sicher.

  4. Mein Opa ist als Rentner zurück nach Berlin gezogen und hat seine Tage damit verbracht, die Straßen planmäßig abzulaufen und anzugucken. Vielleicht mal für später vormerken, ist auch gut für Gefäße und Gelenke, glaub ich.

  5. Ich würde sagen, die Tanzschule war in der Kloppstockstraße in einem Hinterhof, ein 50-er Jahre Bau. Ich meine, jetzt abgerissen. Eine Tanzschule wird in Bahrenfeld von einem der damaligen Lehrer (Rainer Abbé) als jetziger Eigner geführt, mit den gleichen Ritualen (Getränkeabfrage in der Viertelstunde vor der Pause), aber keine Knabbereien mehr. Es ist lange her…
    VG aus der „anderen“ Ecke der Stadt!

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