Das Gelb im Laub zur Kenntnis nehmen

Nach wie vor sehe ich noch keine Lebkuchen beim Einkaufen, nur die Meldungen anderer dazu in den Timelines. Aber erste Plakate kleben in den Hotelfenstern in der Nähe des Discounters und werben bunt für einen Weihnachtsmarkt: Täglich ab dem 1.11., so steht es da. Man kann sich noch eine Weile darauf einstellen.

Unten an der Alster geht es weiter hochsommerlich zu. Touristen und Einheimische in lässiger Minimalbekleidung, das Prinzip Sommermode wird bis zum letzten Sonnenstrahl voll ausgereizt. Überall joggende, japsende Menschen mit hochroten Köpfen kurz vor der Überhitzung. Mir ist der Anblick unangenehm, am Ende fallen sie einem noch vor die Füße, denke ich oft, und wer möchte dann diese vollkommen verschwitzten Sportfanatiker beatmen müssen.

Ich halte vorsichtig Abstand von allen, die mir allzu gefährdet aussehen, und es laufen viele davon herum.

Man muss zwischendurch die laufende Trainingsgesellschaft bewusst aus dem Blick lassen, den Kopf in den Nacken legen, hoch in die alten Bäume am Ufer sehen und das jetzt überall aufscheinende erste Gelb im Laub bemüht zur Kenntnis nehmen. Für den September in Gedanken. Oder, nach einer Weile und vielen Schritten fällt es mir erst auf, man muss auf einigen Wegen das erste Rascheln vor den Füßen beachten.

Erstes gelbes Herbstlaub von Linden an einem Straßenrand. Noch keine große Menge, aber man kann es beim Gehen schon rascheln lassen.

Ich gehe am Sonnabend etwas ziellos im Stadtteil und an der Alster herum. Ich habe Zeit, es ist ein ungewohntes Gefühl. Die Söhne machen irgendwo irgendwas mit irgendwem und sind aus dem Alter heraus, in dem ich noch dauernd wissen möchte oder müsste, was es wohl gerade sein mag. Sie wurden bereits am Morgen von mir bekocht und freundlich mahnend an die Kunst des Aufwärmens der Bolognese erinnert. Es steht alles bereit für sie, ich bin mit dem Thema Haushalt, Ernährung und Erziehung durch für diesen Tag.

Die Herzdame entschwand währenddessen in Richtung Bremen, um dort etwas mit anderen Menschen zu machen, wonach mir gerade nicht ist. Zumal sie das zu Zeiten macht, in denen ich gewöhnlich schon schlafe.

Ein Hörbuch lasse ich mir auf meinen Wegen vorlesen: „Der Feind“, das ist ein thematisch bedingt wenig erbaulicher Erzählband von Erich Maria Remarque. Geschichten aus dem Ersten Weltkrieg oder aus der Zeit direkt danach. Ein schauderhaft gutes Buch, auch das Pathos muss man als angemessen hinnehmen. Es ist so beeindruckend, wie man es bei Sujet und Autor eben erwarten kann, treffend gelesen mit rauer Stimme von Henner Quest.

Sommerlicher Nachmittag, ein mit einer Plane zugedecktes Segelboot liegt an einem Außenalstersteg

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Am Abend gehe ich auf dem Rathausmarkt, wo Kent Nagano auf großer Bühne das Philharmonische Staatsorchester und mehrere Chöre dirigiert, den der Staatsoper, die Alsterspatzen und den Hamburger Knabenchor. Es ist gut besucht, der Platz ist voll besetzt, und es wird während der Aufführung noch voller, zuströmende Mengen. Ich nehme an, dass auch viele Passanten hängenbleiben, die von der Veranstaltung nichts wussten. Wenn da so viele stehen und gucken und hören, dann stellt man sich eben dazu.

Ein schöner Anblick ist das jedenfalls, diese friedliche Menschenmenge vor dem Rathaus und vor der Bühne. Man denkt die Politik überall mit in diesen Zeiten, hier also ein buntes Miteinander. So geht es doch, und so schwer sieht es gar nicht aus. All diese konzentriert zuhörenden Menschen, natürlich auch fortwährend filmend und fotografierend.

Oder leise telefonierend, wie direkt neben mir, eine junge Frau, die jemandem mitteilt, dass der Kent Nagano das hier macht, „Der Kent Nagano! Ja, der! Der macht das hier! Kent! Nagano! Den kennt man doch.“ Und dann, hörbar entrüstet: „Na, wenn ich es doch sage!“ Daraufhin das Gespräch beendet, Beweisbilder gemacht und prompt verschickt. Wenn sie es doch sagt!

Der Herr Kent Nagano, so wird es von der Bühne herab angesagt, hat diese Open-Air-Konzerte initiiert. Das hat er gut gemacht, finde ich.

Direkt vor mir tanzen zwei kleine Mädchen ausgelassen zum tosenden Chorgesang der Carmina Burana um ihr Elternpaar herum. Weil man als Kind noch zu allem tanzen kann. Eine Fähigkeit, welche die meisten von uns später verlieren, verdrängen oder bewusst ablegen.

Im Laufe des Konzertes kommt etwas Bewegung auch in die Menge der erwachsenen Besucherinnen, die aber durchaus nicht tanzen. Es stellen nämlich etliche, die noch aus der Sonne des Nachmittags hierherkamen und sich in T-Shirt und kurzen Hosen zu den anderen gesellt haben, ein mittlerweile äußerst ungewohntes Gefühl fest, es wird allgemein etwas gefroren. Ich merke es auch, es ist im ersten Moment eine angenehme Empfindung.

Der Abend kühlt überraschend schnell ab und die paar Gäste mit den Pullovern aus der Herbstkollektion, die haben doch Recht gehabt. Manche von denen sagen es auch ihrer zu knapp bekleideten Begleitung, siehste, siehste, und ich sag noch! Und sich dann so über die bestrickten Arme streichen und grimmig zufrieden nicken, denn es ist schon schön, einmal richtig zu liegen. In wie vielen Beziehungen die gleichen Dialoge aufgeführt werden, alle paar Meter wiederholt sich das.

Fröstelnde Kleinkinder in fürsorglich gereichten Elternjacken. Ärmel, die bis auf den Boden hängen. Frauen, denen die Männer freundlich ihre Sakkos umgehängt haben. Und eine Frau in ausgesprochen damenhafter Kleidung, man sieht da glatt zweimal hin, in einem Mantel, mit eleganten Lederhandschuhen, Wollmütze und Schal.

Die friert nicht.

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