Gänsedisteln, Strohblumen, Bach

Abgesehen vom Geburtstag des ersten Sohnes gibt eine zweifache Abkühlung am Montagmorgen. Zum einen sind wir nachts wieder bei der kalendarisch ausnahmsweise passenden Standardeinstellung 12 Grad angekommen, der Fußboden ist zum ersten Mal in der neuen Saison kühl an den Füßen.

Zum anderen weiß offensichtlich niemand mehr, wie man eine positive Stimmung nach den Wahlen des Wochenendes bewahren soll. Ich lese die Nacht und den Abend nach. Gallenbittere Timelines, die Zeiten werden ernster und ein Patentrezept für heitere Gelassenheit will mir auch nicht einfallen. Aber das ist eh nicht mein Spezialgebiet, war es nie.

Ich arbeite mich im Home-Office in den September hinein und fege noch eben die Reste des Augusts zusammen, ich räume auf, sichte und plane. Manchmal wäre es schön, wenn der Rest des Alltags und überhaupt des Lebens und der Gesamtsituation so verlässlich sortierbar wäre wie die Zahlen im Büro.

Die Politiknachrichten vom Vortag spiegeln sich an diesem Tag in keinem einzigen Gespräch, ich führe aber auch nicht viele. Lediglich online wird in den diversen Gemeinschaften immer weiter diskutiert und erörtert, mit einem deutlich erschöpften, wehen Grundton. Nicht resigniert, nur reichlich desillusioniert – man könnte wieder ein Lied von damals im Kopf abspielen.

Beim Spaziergang des Tages höre ich weiter den Victor Klemperer. Wobei dann das Wort Gestapo in dem Moment fällt, in dem ich gerade an dem Gebäude vorbeigehe, in dem die Hamburger Gestapo-Zentrale (Stadthausbrücke) war, mein Blick fällt auf die Erinnerungsinschrift. Das ist mir dann doch zu viel, ich wechsele für eine halbe Stunde zu Musik, wenn auch zu getragener. Wir wollen nichts übertreiben, denke ich mir, und der Herr Bach passt eh bald wieder in die Jahreszeit. Da kann schon einmal versuchsweise etwas georgelt werden und ja, es wird bald passen, ich merke es schon. Trotz der wieder stark gestiegenen Temperaturen in der Nachmittagssonne.

Für das Wohnzimmer kaufe ich später Nachschub für die große Vase, denn man muss sich nachdrücklich auch um Erfreuliches kümmern. Orangefarbene Gänsedisteln und rote Strohblumen. Septemberstauden mit herbstlicher Farbanmutung, es ist Zeit. Die Strohblumen entscheiden sich allerdings nach Kontakt mit dem Wasser in der Vase größtenteils für den spontanen Freitod und lassen sich final hängen.

Es ist nicht immer einfach, den Alltag verlässlich aufzuhellen.

Am Nachmittag dann immerhin noch Geburtstagskuchen mit Sohn I. Den Kuchen hat die Herzdame gebacken und er ist wiederum sehr gut, wie niemand anders erwartet hat. Dunkler Schokoladenkuchen ist es, so dunkel, dass er kaum instagrammable ist. Ein schwarzer Klecks im Bild mit einer Kuchengabel daneben. Aber man muss auch nicht jeden Teller fotografieren.

Im Bild stattdessen ein Blick von der Kennedy-Brücke, über die Lombardsbrücke in Richtung Rathaus.

Blick von der Kennedybrücke auf das Rathaus, auf den Gleisen davor ein ICE. Wolkiger Himmel, man erkennt auch die Alsterfontäne.

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2 Kommentare

  1. „Nit resigniert, nur reichlich desillusioniert…“

    Der Hausherr zitiert eine (eingehochdeutschte) Zeile aus „Verdamp lang her“ der Kölner Band BAP, deren bekanntestes Werk, veröffentlicht Anfang der 1980er Jahre, von der sogenannten „Kristallnacht“ handelt und eigentlich von den Versuchen, den Faschismus wieder aufleben zu lassen.

    Es war nie anders.

  2. Klemperer ist schon schwere Kost, beim Lesen vermutlich noch mehr wie beim Hören.

    Ähnlich spannend ist Friedrich Kellners „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne“.

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