Mit Hui durchs Gekachelte

Andere schaffen es noch, über alles nachzudenken, ohne vor Widerwillen zwischendurch abzubrechen, Respekt: Giardino über hierarchische Weltbilder

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Auf dem Weg zum Hotel an der Ostsee halten wir in Arnis, bzw. vor Arnis. In diese winzige Stadt kann man nicht fahren, sie ist zu überschaubar für die Autos der Gäste. Eine Handvoll SUVs und dort würde schon nichts mehr gehen oder fahren. Die kleinste Stadt Deutschlands, ich wollte sie doch einmal gesehen haben, seit Jahren schon, nachdem ich oft davon gelesen hatte. Die größte Stadt, die kleinste Stadt, ein paar Superlative doch einsammeln im Laufe des Lebens. Die nördlichste Stadt fehlt mir auch noch, merke ich gerade, das ist Glücksburg, das habe ich merkwürdigerweise immer verpasst. Die südlichste Stadt fehlt eh, das ist Sonthofen, von westlich und östlich zu schweigen.

Ruhig ist es da, in Arnis, sehr ruhig. Es ist ausgesprochen sonntäglich in der Ausstrahlung, wenn nicht feiertäglich und außerdem nachsaisonal, an einem Dienstag Anfang September. Eine etwas unwirkliche, kulissenhafte Stimmung herrscht dort, wenn man sonst die Mitte der Großstadt gewohnt ist, das stete Tosen, Brausen und Wimmeln. Ein schöner Spaziergang führt um die Stadt herum, am heute unruhigen Wasser der Schlei entlang. Durch heftigen, rempelnden Wind gehen wir, bzw. gegen diesen Wind an, und uns wird dabei tatsächlich und ernsthaft herbstkalt. Da ist es also, dieses so gründlich vergessene Gefühl. Uns wird dann schnell bewusst, was wir alles doch nicht eingepackt haben, etwa Mützen und Schals.

Die Schlei an der Werft auf Arnis, unruhiges Wasser, bedeckter Himmel, graue Stimmung

Ein rabiater, heftiger Wechsel ist das, von den fast dreißig Grad am Sonntag in Hamburg zu diesen sechzehn Grad am Dienstag an der Küste. Ein Herbsteintritt wie mit dem Vorschlaghammer in unseren Kalender geprügelt.

Eine verlassene Rutsche für Kinder am Strand von Arnis, ziemlich verloren aussehend

In der Nähe von Arnis gehen wir in ein Café mit traditionell unfreundlicher Bedienung, das korrekte Wort ist wohl pampig. Für mich sind es Kindheitserinnerungen, so ist man im Service an der Ostsee gerne einmal. Zumindest an der in Schleswig-Holstein, für die ich es aus reicher Erfahrung beurteilen kann. Irgendeine Art von ruppigem Charme kann ich dabei nicht ausmachen, ich finde diese Art eher anstrengend. Aber es wirkt natürlich und echt, könnte man anfügen, fast entschuldigend. Aber nur fast.

Und weil die schärfsten Kritiker der Elche bekanntlich früher selbst welche waren, beeile ich mich, eine an dieser Stelle unvermeidliche Selbstbezichtigung hinzuzufügen. Denn auch ich komme von der Ostsee, wie sattsam anderweitig beschrieben, und kann daher keineswegs ausschließen, selbst so zu sein. Im Gegenteil, es ist wahrscheinlich so. Lieber also nicht in Cafés oder überhaupt im Tourismus arbeiten, das vielleicht daraus ableiten.

Eine Standardsituation in deutschen Cafés wird jedenfalls für uns aufgeführt: Es gibt Kuchen in einer Vitrine. Es ist für die Gäste nicht genau zu erkennen, was für Sorten wohl auf den Tellern stehen und es sind auch keine hilfreichen Schildchen dabei. Also fragt man das Personal – und das Personal rollt schwer genervt die Augen, also wirklich, diese Gäste, was für sensationell blöde Fragen die heute wieder stellen. Sollen sie doch irgendwas bestellen, Kuchen ist Kuchen. Meine Güte, was ist mit den Leuten.

Kurz zwischendurch die ferne Erinnerung an eine Bedienung im mecklenburgischen Zarrentin, die vor vielen, vielen Jahren, als wir in einem Café dort fragten, welchen Kuchen es gebe, die vermutlich in diesem Zusammenhang treffendste Antwort gab, schnippisch wie nur denkbar: „Das sehen Sie ja dann.“ Drehte ab und brachte zwei Teller. Es gab nur eine Sorte Kuchen, und ja, wir sahen es dann.

Die junge Frau, die bei uns am Tisch heute die Augen tatsächlich so rollt, dass es wie in einem alten amerikanischen Cartoon aussieht, fragt irgendwann ihren gutmütigen und ob ihrer Art sichtlich etwas verzweifelten Chef zischend hinter dem Tresen, wir hören es nur zufällig: „Was soll ich denn noch alles machen!?“ Und in dieser Frage erkennt man die Haltung gut beschrieben, denke ich mir, erkennt man auch die Erklärung. Der Alltag als bloße Zumutung, und es ist nun nicht so, dass ich oder wir es gar nicht nachvollziehen könnten.

Auf der Toilette des Cafés dann aber etwas ausgesprochen versöhnend norddeutsch Nettes, ein maritimes Pinkeln gewissermaßen. Denn in den Räumen sind zwei gegenüberliegende Fenster weit geöffnet und es zieht dort nicht etwa nur, nein, es stürmt einfach quer durch. Draußen tobt der Wind mit Stärke sieben oder acht, wenn nicht mehr, und mit ordentlich Hui pfeift es ungebremst um mich herum durchs Gekachelte, dass es mir den Seifenschaum am Waschbecken flockig von den Händen treibt und im Raum verweht. Ich mag das sehr, es fühlt sich ausgesprochen heimatlich an.

Gellende Möwenschreie in den durchjagenden Böen, während man die Kleidung vor dem Heraustreten wieder richtet, ach ja. Es ist ein mir so vertrautes Szenario, und die frühherbstlichen Strandtage meines früheren Lebens ziehen kurz an mir vorbei.

Wir fahren dann weiter zum Hotel, von dem ich hoffe, es gut ausgesucht zu haben. Die Optik stimmt schon einmal.

Ein Fachwerkhaus unter alten Bäumen

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8 Kommentare

  1. Na interessant. Ich komme etwas weiter östlich von der Ostsee, also fast so weit östlich wie in Deutschland geht. Und ich dachte immer, das Verhalten der Servicekräfte wäre eine Mischung aus Ostblock-Erbe und Ausbeutung (Stundenlohn 3€ usw…). Aber dann liegt es wohl an der Ostsee…
    Vielleicht muss ich mal eine Versuchsreihe starten. Schweden, Baltikum, Polen, Finnland… 🙂

  2. Meine (natürlich nicht repräsentativen) Stichproben in Polen, Litauen, Lettland, Estland, Finnland und Schweden sprechen gegen die Theorie, dass das Verhalten der Servicekräfte grundsätzlich von der Ostsee beeinflusst wird :-).

  3. dann wünsche ich mal schöne tage zu zweit, das wichtigste. ich habe nur positive erfahrungen an der ostsee weiter östlich, negative in der lübecker bucht und auf fehmarn.

  4. Ich habe quasi alle Cafés (bzw. Möglichkeiten zum Kuchenessen) zwischen Schlei und Flensburger Förde mindestens einmal besucht (https://frank-maahs.de/kuchen). In der Regel werden einem auf Nachfrage freundlich und bereitwillig alle Kuchensorten erklärt.

  5. Bei all den Superlativen am Rand unseres Landes, die östlichste Stadt dürfte Görlitz sein, die westlichste Aachen (?), bitte die „mittigste“ nicht vergessen: Mühlhausen. Ist zwar etwas provinziell dort, aber es gibt ein Bratwurstmuseum. Für Speis und auch Trank ist also gesorgt.

  6. Die „äußersten“ Gemeinden (nicht Städte) Deutschlands haben sich übrigens zum „Zipfelbund“ zusammengeschlossen: https://www.zipfelbund.de/
    Da können Sie Stempel für Übernachtungen sammeln und regionale Spezialitäten gewinnen. Wäre das nicht mal ein Projekt?

  7. Schön wie immer ist es, wenn durch den Alltag das Weltgeschehen schimmert, diesmal ist „Das sehen Sie ja dann.“ die garantierte Antwort, die man kriegt, wenn man aktuell Politiker nach dem Wahlprogramm fragt.

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