Die Kaltmamsell besprach hier „Kairos“ von Jenny Erpenbeck, gerne gelesen. Also die Rezension, nicht das Buch. Das könnte ich höchstens vormerken, aber der Stapel neben dem Bett ist bereits bedenklich hoch.
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Ich habe das Buch „Machtübernahme“ von Arne Semsrott gekauft und einem Sohn geschenkt. Man muss der nächsten Generation nach Möglichkeit etwas Sinnvolles mitgeben.
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Der andere Sohn kam mittlerweile von seiner Klassenfahrt zurück, der ganze Jahrgang war zum Segeln in Holland.
„Und, wie war es?“
„Es gab kein WLAN auf dem Schiff.“
Ein Drama in modern kurzer, minimalistischer Fassung. Nur ein Akt, ein Auftritt, ein Satz. Wie viel Aussage steckt in dieser Antwort, wie viel Bitternis auch.
Sonst war es aber super. Wenn sie auch die einzige saukalte, verregnete Woche weit und breit erwischt haben, was sich für alle Beteiligten etwas absurd anfühlte.
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Im Bild zusammenhangslos der Mittelkanal in Hamburg-Hamm, in der Nähe des Gartens. Kein Herbst zu sehen.
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Weitere Stunden und mit großem Interesse Kempowskis „Alles umsonst“ gehört, seinen letzten Roman, vorgelesen von ihm selbst. Wie ein Profisprecher liest er, was nicht selbstverständlich für schreibende Menschen ist, immerhin ist es auch eine Langstrecke. Vielleicht liegt sein Können als Sprecher ein wenig daran, dass er Lehrer war. Ein Berufsleben lang an das möglichst gut verständliche Vortragen gewöhnt, ich kann es mir so vorstellen.
Man hört, wie er Sprache liebt und besonders einige Begriffe. Diese besonderen Bezeichnungen und Wendungen, die zu Ort und Zeit in herausragender Weise passen, die Signalwörter. Geradezu mit Lust werden sie betont. Man hört seine Freude über die richtige Wortwahl und auch über die Wiederholungen. Ich finde das aufschlussreich, wie er die Wörter dabei auflädt. Wobei die Kritik in den Feuilletons ihm diese Liebe zu Phrasen auch gerne vorgeworfen hat, allzu banal kam es einigen vor. Ich bin eher Team Kempowski, aus meiner Sicht macht er das richtig. Er beobachtet genau, erfasst treffend und ja, es konzentriert sich vieles in Phrasen und Begriffen, denn wir alle neigen zur Wortmagie. So ist es für mich auch in der Wirklichkeit und wird daher korrekt abgebildet.
Fast möchte ich seine früheren Romane erneut anlesen, mit dieser Stimme und dieser Betonung im Ohr. Es ist doch zu und zu faszinierend.
Im Roman geht es um die letzten Szenen vor dem Kriegsende 1945, um die Flucht aus Ostpreußen, dargestellt an einem überschaubaren Figurengrüppchen, die meisten überleben die Handlung nicht. Und Kempowski macht, was sonst literarisch nicht oft in dieser Deutlichkeit gemacht wird, er bricht die Entscheidungen zum Guten oder Bösen, die den Nachgeborenen später tragisch, groß und geschichtsentscheidend vorkommen werden, fast bis auf Launen und Stimmungen herunter. Auf das Alltägliche und das Undurchdachte, auch darauf, dass man als handelnde Person eben immer irgendwas macht. Und das fällt dann so oder so aus, auch bei Wind von vorn, um im Kontext und Sprachgebrauch zu bleiben.
Es ist aber selten im theatralischen Sinne konzipiert, durchdacht und geplant, was da von uns Menschen im Wirrwarr des geschichtlichen Ablaufs inszeniert wird. Es scheint sich in den meisten Fällen eher einfach zu ergeben, und nur mit viel Glück ist es im kritischen Rückblick nach Jahren noch in Ordnung. Vermutlich ist es das eher nicht, und darüber schweigt man dann. Was meine Generation bekanntlich so überaus gründlich erlebt hat – was wurde uns alles nicht erzählt.
Wenn es darum geht, Geschichte verständlich und nachvollziehbar zu machen, sie vom Sockel zu holen, scheint mir dies einer der geeigneteren Romane zu sein, und Kempowski hat für mich da etwas mit Fontane gemeinsam. Menschen und ihre Handlungen so zu schildern, dass man die Epochen an diesen Beispielen zu verstehen meint, das haben beide vermocht. Siehe auch etwa bei Heinrich Mann mit seinem Untertan oder bei Joseph Roth mit dem Radetzkymarsch etc., und mit denen kommt man weit durch die deutsche Geschichte, hat alles recht nachvollziehbar vor sich und wundert sich manchmal etwas weniger.
Für die westdeutsche Gegenwart dann vielleicht noch Gerhard Henschel anlegen, den man als Chronisten kaum unterschätzen kann, der reicht dann bis weit in unsere Zeit (der nächste Band der bereits umfangreichen Martin-Schlosser-Reihe, sehe ich gerade, erscheint im November: Frauenroman, da haben wir dann die Neunziger abgebildet).
Bei der ostdeutschen Variante der Geschichte unseres Staates bin ich allerdings nicht kundig.
Und aus der Zeit nach der Wiedervereinigung habe ich wegen der im Laufe der Jahre zunehmenden Gegenwartsaversion nicht genug gelesen, kenne mich also kaum aus. Vielleicht ist es bedauerlich, aber man kann sich auch nicht für alles interessieren.
Ich habe mir passend zum Kempowski-Roman noch etwas Doku-Material zur Flucht aus Ostpreußen angesehen, danach dann aber Albträume wie lange nicht mehr gehabt. Quasi in lehrbuchmäßiger Ausprägung, und wer braucht schon besondere Qualität bei Albträumen. Meine Güte, was kann die Fantasie im Schlaf leisten.
Im Bild der Innenhof des Sprinkenhofs, Stichwort Backsteinexpressionismus, Weltkulturerbe und alles.
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Darf ich Ihne Ralf Rothmann ans Herz legen? Siehe auch hier: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ralf-rothmann-im-gespraech-die-nacht-unterm-schnee-100.html
Vorsicht, auch diese Lektüre kann Alpträume verursachen. Dennoch.
Ich empfehle ja Brigitte Reimann, Ulrich Plenzdorf, Christoph Hein und fuer das Ende der DDR seinen Sohn Jakob Hein als Chronisten. Ach, man könnte so viel lesen (bei Frau Groener gibt es viele Hinweise auch auf diese Schaetze)
Von der Reimann kenne ich immerhin die Tagebücher, und fand sie sehr beeindruckend.
Ich könnte für ein Stück ostdeutsche Geschichte noch „Leibhaftig“ von Christa Wolf empfehlen – die literarische Verarbeitung einer Episode ihres Lebens, in der sie sehr lange im Krankenhaus mit dem Tod rang, während drumherum die DDR endgültig erodierte. Vorsicht allerdings, die Schilderungen des zusammenbrechenden Gesundheitssystems lesen sich erschreckend so, als könnten sie auch 2024 geschrieben sein… also eher auch kein Buch für gute Laune.