Stühle unter Regenschauern

Einer der öffentlichen Bücherschränke hier ist eine ausgediente Telefonzelle, in die man einige Regale montiert hat. Ihr Geruch entspricht nicht mehr dem, an den wir uns aus dem letzten Jahrhundert erinnern, vermutlich weil die hängenden Telefonbücher mit ihrem leicht süßlichen, seltsam fahlen Papieraroma fehlen. Aber wenn man an einem frühen Herbstmorgen die Telefonzellenbücherschranktür öffnet, gibt es eventuell dennoch einen starken sensorischen Reminder an vergangene Jahrzehnte. Nämlich das gruselige Gefühl auf der Haut, wenn man beim Betreten einer Telefonzelle durch ein in der Nacht entstandenes Spinnennetz geht. Wenn sich dieses einem sachte ums Gesicht legt und man fein verschleiert und bei aktivierten Urinstinkten panisch hinspürt, ob etwas irgendwo auf einem herumkrabbelt. Sehr präsent werden sie einem dann wieder, die Telefonzellen von früher. So vollgeraucht, verdreckt, versponnen, versifft und ungemein wichtig, wie sie für uns waren.

Eine meditative und entspannende Übung für Menschen aus dem letzten Jahrhundert ist es übrigens, sich noch einmal in Ruhe vorzustellen wo in den Gegenden, die man gut von früher kennt, damals die Telefonzellen standen. Ein Bild der Stadt, das man nach und nach anreichern kann.

Der Bücherschrank steht neben dem katholischen Dom und einigen kirchlichen Einrichtungen, etwa einem Seniorenheim, der Bistumsverwaltung etc. Auf den Regalen des Schranks sehe ich Ratzingers aussortierte Schriften neben denen von Karl Marx und Konsalik. Da wächst etwas zusammen, in den Buchreihen dort. In der ausgedienten Zelle die ausgedienten Meinungen vergangener Debatten. Daneben noch ein Schwung aktueller Küstenkrimis und der in jedem Bücherschrank unweigerliche Mankell mit gleich mehreren Titeln. Dazu die ebenso erwartbare Pilcher und der ewige Hundertjährige, der aus dem Fenster … diesmal steht er da in zwei Exemplaren. Er kam auch schon dreifach vor.

Welche Gesellschaft bildet das ab und möchte man das wissen. Aber wo ich schon dabei bin, immer an die große Chronik denken – rechtslastige Bücher kamen in den Bücherschränken bisher kaum vor, nur einmal ein vereinzelter Sarrazin. Woraus kaum etwas abzuleiten sein wird, ich stelle es nur eben nebenbei fest. Die entsprechenden Bestseller sind noch zu frisch, um dort zu stehen. Die kommen in zehn, zwanzig Jahren dazu.

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Draußen sehen wir nun die Schlussphase der Außengastro, nasses Gestühl unter dem nur zögerlich fallenden Herbstlaub. Eng zusammengedrängte Stühle unter Regenschauern. Klatschnasse Sonnenschirme und die bereits abgebaute Gastlichkeit.

Tisch und Stühle unter nassem Herbstlaub

Demnächst werden die Sommerrequisiten wieder irgendwo eingelagert. Es verbleiben im Straßenraum die üblichen zwei, drei Stühle neben den Eingangstüren, die Stammplätze für die Winterraucher in den dicken Daunenjacken.

Zusammengeklappte, weggestellte Tische der Außengastro

Die Fußwege im Viertel werden wieder leerer, breiter und luftiger. Das soll mir recht sein, es gibt bald mehr Platz für mich und meine ausladenden Einkäufe, ich muss endlich keine aperolseligen Touristengrüppchen mehr knurrend umkurven wie der einheimische Nörgelrentner vom Dienst.

Lassen Sie mich durch, ich habe eine Familie zu versorgen.

Zusammengestapelte Stühle der Außengastro

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2 Kommentare

  1. Tatsächlich habe ich auch noch keine rechtsgerichteten Bücher in solchen Schränken gefunden, jedenfalls keine auf Anhieb als solche erkennbare.

    Wie sehr sich die Gesellschaft durch Bücherschränke abbilden lässt? Gute Frage. Vermutlich wühlen eher Menschen mit mittlerem oder geringem Budget oder generell Menschen, die gern und viel lesen, in Bücherschränken, ich stelle mir diese Gesellschaftsgruppe eher mitten oder links im politischen Spektrum vor. Vielleicht wäre das eine mögliche Erklärung. Oder aber die Schränke werden offiziell oder auch von Besuchenden kuratiert und was nicht passt, wird entfernt. So oder so spannend, da mal drüber nachzudenken und genauer hinzuschauen.

    Danke dafür!

    Übrigens habe ich amit angefangen, Bücherschränke, die ich noch nicht kannte, auf der Organic Map einzutragen. Toll ist das, etwas zum Wachstum der Karten beizutragen. Seit deiner Empfehlung für diese App neulich bin ich auch eine der vielen glücklichen Userinnen geworden.

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