Oktober, fortschreitend

Unsere Korrespondentin in Frankreich schreibt: „Ich bin umzingelt vom Oktoberfest.

Da kann ich anlegen, das ist auch aus meiner Sicht richtig beobachtet. Da ändert sich gerade etwas und wir sind live dabei. Schon in den letzten Jahren deutete es sich an, jetzt wird es deutlicher. Es laufen mir auch in Hamburg immer mehr Menschen über den Weg, die sich durch Textilsymbolik klar ausgedrückt in Oktoberfeststimmung befinden oder aber in diese hineinwollen. Lederhosen, Dirndl und andere Trachtenversatzstücke als, nun ja, Verkleidung, anders kann man es nicht nennen. Dazu das stete Bemühen um Bier, es wird teils in größeren Mengen mitgeführt.

Die Zubehörgewandungen fallen teils auf den ersten Blick als ausgefeilt und teuer aus, teils auch als billig und in Grabbeltischoptik. Das Kostüm der letzten Minute, nimm diesem Hut mit Plastikfeder. „Morgen ist Oktoberfest, da brauche ich noch etwas Passendes“, und alle wissen dann, was man da braucht. Man kann es aufzählen, so viele Teile sind es gar nicht. Und wie bei den unsäglichen Junggesellenabschiedsfeiern gehen die Gruppen gerne in uniformen Kostümierungen, damit das Rudel als solches sofort zu erkennen ist.

Ich sehe Grüppchen in diesen Outfitvarianten beim Einkauf. Sie erwerben wie vorgeschrieben die Waren aus der blauweiß verzierten Sonderproduktpalette Oktoberfest beim Discounter. Sie werden vermutlich später Bierzeltgarnituren damit bestücken und es passende Dekoration nennen. Es sieht aus wie in einem Werbefilm, es ist aber echt und, das kommt mir wichtig vor, es sieht keiner mehr hin. Auffällig ist es nicht mehr, auch in Hamburg nicht, wenn zur Oktoberfestzeit Grüppchen im gleichzeitig reduzierten und überdrehten, also eigentlich karikaturhaften Bayernlook durch die Straßen gehen. Es ist nichts Besonderes mehr, nur ein weiterer Termin im Partykalender der Stadt.

Es wird eine deutliche Steigerung der Oktoberfestkopien in Betrieben, Firmen, Büros, Sportvereinen, Freundeskreisen, Altersheimen und was auch immer geben. Originell und seltsam abwegig ist so etwas nicht mehr. Aber lange her ist es nicht, dass das bei uns so war.

Ein weiteres Fest mit karnevaleskem Zubehör also, mit Kostüm und Dekoration. Siehe dazu auch den Hamburger Schlagermove, bei dem die Symbolik längst ähnlich präzise festgelegt ist, bei Musik, Kleidung, Zubehör, Alkohol etc. Diese Parallelen können einen begeistern, wenn man sich für Alltagskultur interessiert.

Offensichtlich wollen wir, also wir im Mehrheitssinne, so etwas haben und machen. Wir basteln uns neue, bunte Traditionen für alle, und wie schnell das geht. Bei den Söhnen wird es dann bereits ein „Das war schon immer so“ sein.

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Wir sind ansonsten ins Heimatdorf der Herzdame gefahren. In Niedersachsen sahen einige Stellen der Landschaft immerhin nach althergebrachter Oktoberoptik aus, wenn ich schon bei Traditionen bin. Als die Sonne kurz durchkam, war es hier und da auch nicht ohne jede Schönheit. Man konnte die Gegenden hinter den überall fahrenden Treckern auf den Landstraßen auch in Ruhe und mit Muße betrachten.

Besonders die Birken sind dabei zu loben. Ihr Edelmetallflitterlook sticht heraus und leuchtet auffallend, auch streuen sie die Blätter teils schon vorbildlich in die Bilder. They drift by the window, diese Blätter, fast könnte man beim Anblick die Musik von damals auflegen.


Wir wollen uns den grauen Herbst vergolden, ja, vergolden.

Wobei wir dem Herrn Storm eine Strophe des Herbstliedes rot anstreichen müssen, sie hält der Klimawandelrevision heute nicht mehr stand:

„Und geht es draußen noch so toll,
Unchristlich oder christlich,
Ist doch die Welt, die schöne Welt
So gänzlich unverwüstlich!“

Ich denke, wir habe mittlerweile gut verstanden, dass sie sehr wohl verwüstlich ist. Und wie wörtlich man das nehmen kann.

Ein Schulwegschild an einer menschenleeren Landstraße

Alte und ramponiert aussehende Kaugummiautomaten neben einer zugewachsenen Sitzbank an einer Dorfstraße

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3 Kommentare

  1. Amüsant an dieser „Vertrachtung“ ist ja dass bis vor einigen Jahrzehnten und seit Anbeginn dieses Festes eigentlich niemand in Tracht aufs Oktoberfest ging. Für die Städter war Tracht verpönt und aus dem Umland kam man in der besten Sonntagskleidung. Also ein relativ neuer Trend, der sich explosionsartig verbreitet.

  2. Herzlichen Dank fürs Verlinken und für die Ausführungen zum Oktoberfest in Hamburg. Sehr strange alles. Das hat sich also, ähnlich dem Halloween-Kürbis-Spektakel, das ich auch immer noch befremdet betrachte, durchgesetzt. Da gibts in der Tat was zu tun für die Kulturanthropologen.

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