Wimmeln, Tummeln, Wuseln

Gehört: Den Stevenson (Die tollen Männer) habe ich mit Genuss und sogar mit passendem Wetter durchgehört. Immer ein besonderes Wohlgefühl, wenn der Wind im Buch zum Wind über der Stadt passt.

Nun aber Kontrastprogramm, ganz andere Zeiten, Länder, Perspektiven und Themen. Nur die Bezüge zur Bibel ziehen sich durch, eine Kulturkonstante. Ich höre Helga Schubert mit: Der heutige Tag – Ein Stundenbuch der Liebe. Gelesen von Ruth Reinecke.

Ein Buch über das hohe Alter und über das Pflegen. Es geht um die Liebe, um das Weitermachen und Durchhalten, es geht also um das Leben, wobei der nahende Tod den Blickwinkel des Buches bestimmt. Vielleicht hätte ich mit dem Hören noch kurz warten sollen, bis zum Eintritt des thematisch passenderen Novembers. Aber das Buch war gerade verfügbar und das andere Hörbuch, das ich schon angefangen hatte, das gefiel mir nicht recht.

Dieses andere Buch hätte wiederum gut in den Kontext Klaus Mann und Anatol Regnier gepasst. Hervorragend hätte es gepasst, denn es waren Gedichte des geschichtlich so unerträglichen und literarisch so herausragenden Gottfried Benn, gelesen von ihm selbst.

Aber ich kam beim Hören wieder zu einem seltsamen Urteil. Denn ich finde, was ich früher bereits bei Kostproben dieser Art gedacht habe: Er liest seine Gedichte leider nicht sehr gut. Das haben andere wesentlich besser gemacht, und es ist am Ende wie mit den Songs von Bob Dylan, die erst gut und liebenswert werden, die erst zur Genießbarkeit heranreifen, wenn andere sie für ihn singen.

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Gesehen: Weiter die Serie zu Leonard Cohen und Marianne Ihlen, die sich im Gegensatz zum Buch von Helga Schubert mit der jungen Liebe befasst.

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Ich hab’s wollen wissen und bin auf’n Kirchturm aufeg’stiegen, um einen Liedtext von Ludwig Hirsch etwas für mich anzupassen. Und auf einmal, da war da unten alles so
lächerlich klein, und ich war plötzlich der höchste Punkt der Welt.

Am Freitag bin ich nach durchlittenem Home-Office zur Petri-Kirche gegangen, weil ich neulich hier erwähnt habe, dass ich schon lange nicht mehr auf dem Turm war. Da ich neuerdings dazu neige, so etwas sofort zu regeln und auf nichts mehr zu warten – es ist eine Haltung, die mir so um meinen Geburtstag im August herum auf einmal richtig vorkam, vielleicht ist sie altersadäquat – sah ich mich nur kurz in der Kirche um, wollte auch die überraschend zahlreichen Betenden dort nicht stören, zahlte vielmehr zielstrebig gleich 5 Euro im Kassenbereich unter dem Turm.

Man muss seinen Namen dort auf einem Besuchszettel notieren. Rechts daneben noch eine Spalte, in der man später abhaken soll, dass man auch wieder runtergekommen ist. Nach denen, die diesen Haken beim Rausgehen vergessen, muss dann am Abend oben jemand suchen, nehme ich an.

Ein leerer Stuhl vor einem kleinen, runden Aussichtsfenster im Turm von St. Petri

Ich war, und wer rechnet denn mit so etwas, der einzige Mensch im Turm. Alle Aussichtsplätze waren nur für mich da. Eine erstaunliche Ruhe über dem Stadtgewimmel, jedenfalls wenn die Glocken nicht gerade läuten.

Eine der Glocken im Turm von St. Petri

Schön war das. Der leere Raum dort oben, die nicht besetzten Stühle vor den kleinen Fenstern. Sonnenlicht auf staubigem Holzboden, das Geräusch der eigenen Schritte auf Brettern und Metallstufen. Dazu ein bekannter Geruch, da unterscheiden sich Kirchtürme nicht von anderen Dachböden.

Auf den Holzbalken sah ich in einer Ecke ein kleines gezeichnetes Herz, darin die Namen Hans und Helga. Es ist eine Weile her, dass diese Namen einmal modern waren, die oben erwähnte Frau Schubert könnte es bestätigen. Und neben einem der Aussichtsfenster mit einigermaßen spektakulärer Aussicht die lapidare Anmerkung mit Edding: „Aber Berlin ist besser.“ Ohne Konkurrenzdenken kommt der Mensch einfach nicht aus.

Blick vom Turm St. Petri in Richtung Rathaus

Blick vom Turm der St. Petri-Kirche in Richtung Alster

Als andere Gäste plaudernd und lärmend die Treppe hochkamen, ging ich wieder runter. Zurück ins Gewimmel, selbst weiter zu wimmeln. Wimmeln, von mittelhochdeutsch wimelen: Sich lebhaft durcheinander bewegen. Bedeutungsverwandte Verben sind Tummeln und Wuseln.

Was man hier unten so macht, nicht wahr. Oder, wie der Herr Hirsch so treffend gesungen hat: Sich umsonst echauffieren.

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Ein Kommentar

  1. Als wir die Arena in Nimes besuchten und von oben auf die malerische Altstadt blickten, fiel mir ein Aufkleber ins Auge: „Nett hier. Aber waren Sie schon mal in Baden-Württemberg?“ Wurde zum geflügelten Wort in der Familie.
    Ansonsten: Herzlichsten Dank für Ihre zauberhaften Schilderungen. Die Bilder passen genau zum Duft nach Dachbodenholz.

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